Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft für Südniedersächsische Heimatforschung e.V. Ausgabe März 2018. Da ich noch zwei Jahre (1972-1974) in die Dorfschule hier in Odagsen gegangen bin, erkenne ich einiges was hier beschrieben wird wieder. Es ist ein interessanter Blick in vergangene Zeiten:
Die Anfänge des Schulwesens im Solling liegen im 18. Jahrhundert. Im damaligen Kurfürstentum Hannover ging die Initiative zur Abhaltung von Unterricht in der Regel nicht vom Staat aus, sondern oft von Privatpersonen ‚die sich am Unterhalt der sogenannten Winkelschulen beteiligten. Ein Beispiel aus der Region ist der Freiherr von Eckardstein, ‚der ab 1779 die Spiegelglashütte Amelith" aufbaute. Er forderte Schulunterricht für die "Kinder seiner Spiegelglasmacher, „damit “sie dereinst dem Vaterlande nicht unnütz und zur Last sind“.? In Hannover stand man solchen Initiativen nicht generell ablehnend gegenüber, scheute aber die laufenden Kosten, die mit der Anstellung eines Schulmeisters verbunden waren. In Amelith waren die Bemühungen des Freiherrn von Eckardstein letztendlich nur erfolgreich, weil er an die Regierung schrieb: „Gern will ich zum Unterhalt des Lehrers beitragen was in meinen Kräften steht. Ich will ihm freie Wohnung nebst einem Garten geben und dahin sehen, dass die Eltern das Schulgeld richtig bezahlen.
Die Bezahlung des Lehrers blieb noch lange ein Problem. 1846 verdiente ein Lehrer 102 Taler im Jahr und musste dafür bis zu 120 Schüler gleichzeitig unterrichten. Dazu kam noch das Schulgeld, das die Eltern zu zahlen hatten. Im armen Solling konnten viele Eltern dieses Schulgeld nicht oder nicht vollständig aufbringen, so dass die Einnahmen des Lehrers schrumpften. In vielen kleinen Dörfern gab es zudem nur wenige Schüler, und der Lehrer konnte nur wenig Schulgeld einnehmen und war auf einen Zuverdienst angewiesen.
In Eschershausen unterrichtete der Lehrer vom Webstuhl aus, und der Schulmeister Kleine in Silberborn betätigte sich nebenbei als Tischler und band Bürsten sowie Bücher. Alle Dorfschullehrer waren früher auch Nebenerwerbslandwirte. Die Gemeinde stellte ihnen das „Schulland“ und die „Schulwiese“ zur Verfügung, die sie bewirtschaften konnten. Hinzu kam meist noch die freie Nutzung des „Schulgartens“ und freies Brennholz. In sehr armen Dörfern stand dem Lehrer noch das sogenannte „Reiheessen“ zu. Das heißt, er ging der Reihe nach Tag für Tag zu einer anderen Familie und bekam dort ein Mittagessen.
Unter solch schwierigen finanziellen Verhältnissen war es nicht leicht die Lehrerstellen zu besetzen und dadurch möglichst vielen Kindern einen Zugang zur Bildung zu verschaffen. Erste Schritte zur Veränderung dieses Zustands unternahm 1717 der preußische König Friedrich Wilhelm I (Der Soldatenkönig). Er verfügte, dass die Kinder auf den königlichen Gütern vom fünften bis zum zwölften Lebensjahr Schulunterricht erhalten sollten. Es waren wohl zwei Überlegungen, die diesen kühl rechnenden Monarchen zu diesem Schritt veranlassten. Zum einen wollte er seine „invalid geschossenen Soldaten“ als Lehrer einsetzen und ihnen so eine Altersversorgung verschaffen. Zum anderen bewogen ihn aber auch Gedanken dazu, die heute wieder ganz modern sind. Brandenburg-Preußen verspottete man damals als „die Streusanddose des Reiches“ und tatsächlich war dem König bewusst, dass sein Land über keine nennenswerten Bodenschätze verfügte und auch die Landwirtschaft mit den damaligen Methoden auf den sandigen Böden keine Höchstleistungen erzielen konnte. Deshalb wollte er in den „Witz und Verstand seiner Untertanen“ -— oder wie wir heute sagen würden, in die Köpfe der Menschen investieren.
Friedrich Il. (gen. Der Große) setzte die Schulpolitikseines Vaters fort und erließ am 12. August 1763 ein Generallandschulreglement und damit die erste für ganz Preußen gültige Schulordnung. Das Generallandschulreglement beförderte die Entwicklung der Volksschule und verhalf schließlich der allgemeinen Schulpflicht in Deutschland zum Durchbruch. Es gilt heute als das wichtigste Schulreglement des 18. Jahrhunderts. Die Schulpflicht wurde auf acht Jahre festgelegt, das Schulgeld auf sechs Pfennige; dazu wurde erstmals ein allgemein gültiger Lehrplan erstellt. Die Schüler sollten Lesen und Schreiben lernen, beten und Kirchenlieder singen. Der Unterrichtsollte aus jeweils drei Stunden am Vormittag und am Nachmittag bestehen. Außerdem definierte das Reglement gewisse Anforderungen an die Lehrer. Nur diejenigen sollten eine Stelle bekommen, „welche in dem kurmärkischen Küster- und Schulseminario zu Berlin [...] die eingeführte Methode des Schulhaltens gefasst haben“.
Die Schulen waren zu dieser Zeit auch in Preußen noch fest in der Hand der Kirche, denn die Schulaufsicht lag beim Pfarrer. Erst im 1794 verabschiedeten Allgemeinen Landrecht heißt es: „Die Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates.“
Im Kurfürstentum, später Königreich Hannover, hingegen konnte sich die Schule nie aus der Dominanz der Kirche befreien. Auch nachdem hier 1846 endlich ebenfalls die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden war, behielt die Kirche ihre beherrschende Stellung im Schulwesen. Das drückte sich häufig sogar darin aus, dass in kleinen Orten der Schulraum und die Räumlichkeiten für den Gottesdienst unter einem Dach untergebracht waren. Im Unterricht standen vor allem religiöse Themen im Mittelpunkt und die Schüler im Solling lernten etliche Kirchenlieder und Bibelzitate auswendig. Insgesamt war man in Hannover der Meinung, dass der Unterricht nicht zu theoretisch sein sollte. Die Lehrer waren angehalten, die Lehrinhalte an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten und ihnen praktische Fähigkeiten zu vermitteln, die sie im späteren Leben gebrauchen konnten. Ausdrücklich erwünscht waren deshalb auch Ausflüge in die nähere Umgebung. Damit sollte die Liebe der Kinder zur Heimat geweckt und ihnen ein hannoversches Nationalbewusstsein eingepflanzt werden.
Als das Königreich Hannover vor 152 Jahren, “nach der Schlacht bei Langensalza im Juni 1866 unterging, kamen die Preußen ins Land und revidierten auch das hannoversche Schulsystem. Ordnung und Disziplin sollten nun auch in die Schulen des Sollings einziehen. Es ging zu wie auf dem Kasernenhof. - „Aufstehen!“ - „Setzen!“ - „Vortreten!“: Das waren die Kommandos, auf die die ‘Schüler im Gleichtakt reagieren sollten. In der Ausbildung war damals gefordert, „dass ein einziger Wink des Lehrers ausreichen muss, um die gesamte Schulordnung schlagartig wieder herzustellen“'° Für die Jungen sollte die Volksschule eine Vorstufe zur Militärzeit sein. Es galt die Meinung, dass schon den Kindern Gehorsam beigebracht werden müsse, damit der Soldat später seinem Offizier und die Ehefrau ihrem Mann ohne Widerspruch gehorchte. Das Militär drängte auch vehement auf die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht. Nicht wegen besonders gebildeter Soldaten, sondern wegen gesunder Rekruten. Wie ist das zu erklären?
Bei den Musterungen stellte sich oft heraus, dass die jungen Männer untauglich waren, weil sie als kleine Kinder schon schwer gearbeitet und sich bereits früh die Gesundheit ruiniert hatten. Das Militär drängte nun auf ein Verbot der Kinderarbeit und wollte die Kinder in der Schule gewissermaßen „in Sicherheit bringen“, damit sie zu Hause nicht mehr so schwer arbeiteten.
Da die Arbeitskraft der Kinder, besonders in den ärmeren Familien, nicht zu ersetzen war, blieb der regelmäßige Schulbesuch in manchen Familien bis ins 20. Jahrhundert ein Problem. Im Winter waren die Klassen meist besser gefüllt als im Sommer, denn im Winter fielen in der Landwirtschaft nicht so viele Arbeiten an und es konnte eher auf die Mithilfe der Kinder verzichtet werden. Häufig fehlte jedoch bei den Eltern die Einsicht zur Notwendigkeit einer Schulbildung für ihre Kinder. Vielfach war man der Meinung, dass ein Bauer oder Hirte nicht Lesen und Schreiben können müsse. Da man sich für seine Kinder aber keine anderen Berufe vorstellen konnte, hielt man auch den Unterricht für Zeitverschwendung. Die Hausaufgaben mussten am Küchentisch erledigt werden, und da der Bildungstand der Eltern auch nicht gerade hoch war, konnten sie ihren Kindern wenig helfen. Vom Herd aus trieb die Mutter die Kinder zudem zur Eile an, denn die Arbeiten im Stall und auf dem Feld warteten und mussten erledigt werden.
Viele Kinder gingen in dieser Zeit meist nicht mit Vorfreude zur Schule, sondern schlichen eher mit Angst im Bauch ins Klassenzimmer. Wanderungen im Sommer und gemeinsame Rodelausflüge im Winter unterbrachen zwar hin und wieder den Schulalltag auf erfreuliche Weise, aber der Lehrer war trotzdem eine furchteinflößende Respektsperson. Der Rohrstock war damals das wichtigste Hand werkszeug des Schulmeisters. Er benutzte Ihn als Zeigestock, mit ihm gab der Lehrer den Takt beim Aufsagen vor und er diente ihm als Züchtigungsinstrument.
Schläge und regelrechte Misshandlungen blieben auch nach dem Untergang des Kaiserreichs das wichtigste pädagogische Mittel in den Schulen. Im Dritten Reich passten sich die meisten Lehrer geschmeidig den neuen Gegebenheiten an oder waren sogar selbst überzeugte Nationalsozialisten. Neben der Hitlerjugend kam der Schule eine zentrale Rolle bei der Erziehung der Kinder im nationalsozialistischen Sinne zu.
Die Lehrer stachelten ihre Schützlinge an, Juden und Andersdenkende auszugrenzen und zu beschimpfen. Die nationalsozialistische Ideologie erhielt außerdem Einzug in die Schulbücher. Dabei blieb kein Fach ohne diesen Einfluss. Viele Lehrer, die schon in der Zeit des Nationalsozialismus Dienst getan hatten, übten ihre Tätigkeit auch nach dem Krieg weiter aus - und änderten nicht viel an ihren eingeübten Lehrmethoden. Erst ab den 1960er Jahren kam langsam Bewegung in den Schullalltag. Die alten Lehrer erreichten das Pensionsalter und junge Kolleginnen und Kollegen brachten frischen Wind in die Klassenräume. Nach diesen ersten Veränderungen folgte in den 1970er Jahren ein regelrechter Umbruch. Das Schlagen der Kinder war nun nicht mehr erlaubt, und die Lehrer waren in sozialen Belangen gut ausgebildete Pädagogen. Die Hausaufgaben erledigte man häufig immer noch am Küchentisch, aber jetzt warteten meist nicht mehr Aufgaben in Haus und Hof auf die Kinder, sondern die Freundinnen und Freunde, mit denen man den Nachmittag verbrachte. Vor allem die Jungen saßen bei den Schulaufgaben schon auf heißen Kohlen, weil die Fußballkameraden warteten. Die Schule entwickelte sich für die Kinder von einer gefürchteten „Strafanstalt“ zu einem sozialen Treffpunkt, wo neben dem Unterricht auch der Kontakt mit Gleichaltrigen eine große Rolle spielte.
Abschließend möchte ich einen kurzen Blick auf die heutige Grundschule werfen, die sich von der meiner und Ihrer Kindheit wiederum in vielerlei Hinsicht unterscheidet. Die pädagogischen Ansätze der Reformjahre wurden weiterentwickelt. Lernpsychologische Einflüsse und die verstärkte Betonung der kindlichen Rechte auf Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit haben zu veränderten Unterrichtsformen geführt. Die Schüler sollen mit Freude und Neugier lernen, angstfrei in die Schule gehen und sich motiviert dem Lernstoff zuwenden. Das zeigt sich schon am ersten Schultag: Eine Einschulungsfeier ist heute ein großes Happening, das mit vielen Familienangehörigen und Freunden gebührend gefeiert wird.
Neben den veränderten pädagogischen Grundwerten muss sich die Grundschule heutzutage auf eine stark veränderte Kindheit einstellen. Die Kinder sind zum einen häufig aufgrund täglicher Termine in ihrer Freizeit eingeschränkt. Schulbildung ist ein umfassendes Projekt geworden, an dem neben den Lehrern und Eltern oft auch Ärzte, Therapeuten, Übungsleiter und Ämter mitwirken. Zum anderen wachsen die Kinder in einer über die Maßen vom Medienkonsum geprägten Umwelt auf. Computer, Handy und Fernseher sind aus den Wohnungen nicht mehr wegzudenken und omnipräsent. Computer- oder Kinohelden sind die neuen Vorbilder.
In veränderten Familien- und Berufsstrukturen gibt es heute seltener Elternteile, die zu Hause arbeiten, Großeltern, die sich kümmern können oder Geschwister als Spielkameraden. Berufstätige Eltern haben wenig Zeit für ihre Sprösslinge. Solche Eltern, die ihren Kindern täglich vorlesen, mit ihnen singen und spielen, wandern und klettern, kochen und backen, bauen und werken,
sind Mangelware geworden. Kinder müssen deshalb vieles in der Schule lernen, was sie früher zu Hause gelernt haben. Dazu gehören vor allem Dinge, die den Umgang miteinander betreffen: Höflichkeit, Ordnung, freundlicher Umgang, Toleranz, Respekt, Pünktlichkeit, Körperhygiene, Tischsitten u.v.m. Kinder lernen wieder in sehr heterogenen Klassen. Die Altersunterschiede betragen bis zu drei Jahre. Die Kinder gehen oft bis zum Nachmittag zur Schule, essen dort zu Mittag und machen gemeinsam ihre „Haus“-Aufgaben.
Lehrer sind heute Allroundtalente, die dem Bewegungsdrang und den Konzentrationsschwierigkeiten der Kinder genauso begegnen müssen, wie teils zurückgehenden Lernkompetenzen, die sich z.B. in Lese-, Schreib- und Rechenschwächen zeigen. Mit kooperativen Lernformen und differenziertem Arbeitsmaterial werden die Methoden geöffnet und die Unterrichtsinhalte individualisiert. Gleichzeitig haben sich die Inhalte verändert. Die Rechtschreibung und mit ihr das Schreiben von Diktaten wurde zugunsten mündlicher Sprachbildung zurückgedrängt. Das Erlernen einer Schreibschriftwird im Computerzeitalter vielerorts nicht mehr als unabdingbare Basiskompetenz angesehen. Gesundheits- und Gewaltprävention sowie Medienerziehung sind Elementare Unterrichtsthemen geworden.
In den letzten Jahren sind auf die Schule weitere Herausforderungen zugekommen, zu denen insbesondere die Inklusion und die Integration von Zuwanderern gehören. Hier sind wir erst auf dem Weg und vieles muss sich noch entwickeln. Die Arbeit bleibt spannend. Wir hoffen an allen Schulen auf die Unterstützung in der Gesellschaft und in der Politik. Denn die Grundbildung unserer Kinder ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nur gemeinsam zu meistern.
Dieser Beitrag wurde verfasst von Daniel Althaus und Sandra Rossel
Ralf Ahrens im Februar 2025
Eines Abends im Jahr 1800 irgendwo in Westeuropa oder im Osten Nordamerikas versammelt sich eine Familie um den Kamin ihres einfachen Fachwerkhauses. Der Vater liest laut aus der Bibel vor, während die Mutter einen Eintopf aus Rindfleisch und Zwiebeln zubereitet.
Der kleinere Sohn wird von einer seiner Schwestern getröstet, und der älteste Junge gießt aus einem Krug Wasser in die Tonbecher auf dem Tisch. Die ältere Schwester füttert das Pferd im Stall. Draußen gibt es keinen Verkehrslärm, es gibt keine Drogendealer, und in der Kuhmilch wurden weder Dioxine noch radioaktiver Niederschlag gefunden. Alles ist ruhig, ein Vogel singt vor dem Fenster. Obwohl es sich um eine der wohlhabenderen Familien im Dorf handelt, wird des Vaters Lesung durch einen bronchitischen Husten unterbrochen, der eine Lungenentzündung ankündigt, die ihn im Alter von 53 Jahren töten wird.
Das Baby wird an den Pocken sterben, die es jetzt zum Weinen bringen; eine Schwester wird bald das Hab und Gut eines betrunkenen Ehemanns sein. Das Wasser, das der Sohn einschenkt, schmeckt nach den Kühen, die aus dem Bach trinken. Zahnschmerzen quälen die Mutter. Auch andere Umstände des Lebens waren anders, als der nostalgische Blick es wahrhaben will: Der Eintopf ist grau, das Fleisch eine seltene Abwechslung zum Brei. Es wird mit einem Holzlöffel aus einer Holzschüssel gegessen.
In dieser Saison gibt es weder Obst noch Salat. Da Kerzen zu teuer sind, muss der Schein des Feuers ausreichen. Niemand in der Familie hat jemals ein Theaterstück gesehen, ein Bild gemalt oder ein Klavier gehört. Ausbildung und sonstige Ausstattung ließen ebenfalls zu wünschen übrig: Die Schule besteht aus ein paar Jahren langweiligem Latein, das von einem bigotten Geistlichen im Pfarrhaus unterrichtet wird.
Der Vater besuchte die nächstgelegene Stadt einmal, aber die Reise kostete ihn einen Wochenlohn, und die anderen Familienmitglieder reisten nie weiter als fünfzehn Meilen von zu Hause weg.
Jede Tochter besitzt zwei Wollkleider, zwei Leinenhemden und ein Paar Schuhe. Seine Jacke hat den Vater einen Monatslohn gekostet, ist aber jetzt von Läusen befallen. Die Kinder schlafen zu zweit in einem Bett auf Strohmatratzen auf dem Boden. Was den Vogel vor dem Fenster betrifft, morgen wird er von dem Jungen gefangen und gegessen.
Menschen, die glaubten, das Leben sei früher besser gewesen, glaubten an „Einfachheit, Ruhe, Geselligkeit und Spiritualität“. Ein Irrglaube: „Es ist einfacher, sich für das Leben eines Bauern zu begeistern, wenn man nicht auf eine Toilette mit langem Abfluss angewiesen ist“,.
Das Leben der meisten Vorfahren war von Krankheiten und Armut geprägt. 1820 lebten Schätzungen aus dem Jahr 2002 im „American Economic Review“ zufolge 84 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. Das bedeutet, dass sie sich „einen winzigen Platz zum Leben, nur minimale Heizkapazität und nur Nahrung leisten konnten, die Unterernährung hervorrufen würde“.Extreme Armut war der Normalzustand, in dem die Mehrheit der Menschheit gelebt hat; in der geschichtlich längsten Zeit starb jedes zweite Kind. Nicht Armut bedarf Erklärung, sondern Wohlstand.
Erst Wirtschaftswachstum ermöglichte es den Menschen, Armut hinter sich zu lassen. Es brachte mehr Güter und Dienstleistungen und bessere Qualität. Der Schlüssel war Entwicklung von Technologien, welche halfen, die Produktivität zu steigern.
Dieser Text stammt aus der Juni Ausgabe der "PM-History" und beschreibt die Situation der Landbevölkerung in jenem Jahr. Das Schicksal dieses Dorfes ist nicht exemplarisch für Odagsen (wie sind schließlich nicht Hessen), dennoch enthält es interessante Informationen:
Es sind die Mutigsten und die Verzweifeltsten, die am 31.Juli 1846 im Odenwald auf-
brechen, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Die keine Kartoffeln mehr haben und von der Obrigkeit meist nichts zu erwarten als Almosen - oder gar das Zuchthaus.
So wie sie machen sich in diesen Monaten Zehntausende auf den Weg, eine Karawane aus Tagelöhnern, Kleinbauern und Handwerkern, die es aus den Dörfern in die Seehäfen zieht. Die Menschen schleppen ihren Besitz und ihre Kinder fort, nach Texas, Ohio und Brasilien.
Nie zuvor haben soviele Menschen Deutschland verlassen. Ein Exodus der Hoffnungslosen, für die es nicht genug Arbeit gibt, nicht genug Land, nicht genug Essen. Ganze Dörfer verschwinden.
Vor allem im Südwesten ist die Not groß - auch im hessischen Groß-Zimmer wo sich die Menschen an diesem Sommertag in Richtung New York aufmachen. Etwa 350 Emigranten fahren auf 41 Leiterwagen durch den Odenwald. Die jüngste Auswanderin ist wenige Monate alt, der älteste Emigrant ist 71.
Hunderte verlassen an diesem Tag Groß-Zimmern. Und Hunderte weitere werden kurz darauf folgen. Der Ort verliert fast ein Viertel seiner Einwohner – und wahrscheinlich beglückwünscht sich der Gemeinderat dazu.
Denn was für die Ärmsten eine Verzweiflungstat ist, gilt den Mächtigen als gesunder Ader-
lass. Als Kur für ein überlastetes System der Armenhilfe. Und als Schutz vor Rebellion. Zu viele Menschen können sich in Deutschland nicht mehr ernähren.
Die Bewohner Groß-Zimmerns fliehen aus einem rückständigen Land. Während Großbritanniens Gesellschaft schon seit zwei Generationen durch die Industrialisierung umgewälzt wird, bestimmt in Deutschland noch immer der Wechsel von Aussaat und Ernte den Lebensrhythmus - und nicht das Stampfen der Dampfmaschinen.
Nach wie vor fertigen deutsche Weber die meisten Stoffe in Handarbeit.
In Berlin sind zwar bereits Maschinenfabriken entstanden, die Zahl der Einwohner verdoppelt sich bis 1845 binnen 30 Jahren auf 400 000 Menschen, und auch anderswo nimmt die Bevölkerung zu. Dennoch arbeiten die meisten Deutschen weiterhin auf dem Land. Immerhin schuften die Menschen nur noch selten als Abhängige ihrer Grundherren.
Anfang des 19. Jahrhunderts haben die deutschen Staaten ihre Gesetze reformiert, um den Bauern individuelle Rechte und eigenes Land zu verschaffen. Allerdings besitzen die
freien Bauern in den südwestdeutschen Staaten Felder, die oft kaum einen Hektar groß sind, denn hier erhält jeder Sohn im Erbfall den gleichen Teil des Landes - die Äcker werden so von Generation zu Generation immer kleiner.
Unter solchen Umständen gelingt es en Bauern selten ausreichende Ernten einzufahren. Die Bewohner des hessischen Ortes Pferdsbach beschließen deshalb 1845, fast geschlossen nach
Amerika auszuwandern. Sie verkaufen ihr Land und ziehen nach Texas.
In anderen Teilen des Deutschen Bundes gelingt es den Bauern hingegen, ihre Erträge deutlich zu steigern. Hatten die Bauern jahrhundertelang wenig Interesse daran, mehr Getreide einzufahren - ihre Herren hätten die höheren Erträge ja einfach abgeschöpft - ernten
sie nun deutlich mehr. 1850 produzieren die deutschen Landwirte bereits doppelt so viel Fleisch und Getreide wie noch um 1800.
Neuerungen setzen sich durch, wie die seit dem 18. Jahrhundert verbesserte Drei-Felder-Wirtschaft. Zudem werden neue Flächen zu Ackerland, es verbreiten sich verbesserte Pflüge und Düngemethoden, planvolle Zucht steigert Fleisch-und Milcherträge.
All dies ist dringend nötig, denn die Einwohnerzahl im Deutschen Bund (ohne Österreich) ist rasant gestiegen: von 24 Millionen um 1817 auf mehr als33 Millionen 1846.
Ein Grund dafür ist der andauernde Friede. Seit dem Winter 1813/1814 hat es keinen Krieg mehr gegeben auf deutschem Boden. Vor allem aber brauchen Knechte, Mägde, Tagelöhner nicht mehr ihre Herren um Erlaubnis zu fragen, wenn sie heiraten wollen. Und die Heimindustrie bietet einen Broterwerb für Menschen, die vorher keine Familie
hätten ernähren können. Sie weben, spinnen, färben, sie fertigen Klingen oder Knöpfe. Alle arbeiten mit, auch die Jüngsten - ein Ansporn, möglichst viele Kinder zu bekommen.
Doch mit der Bevölkerung wächst die-Not. Denn die Reformer haben nicht nur die Bauern aus der Abhängigkeit von ihrem Herrn entlassen, sondern auch die Adeligen aus ihrer Pflicht, für ihre Untergebenen zu sorgen.
Dabei finden gerade auf dem Land viele keine Arbeit mehr; nimmt die Zahl jener Menschen rasant zu, die nur einen winzigen Acker besitzen. Und die Hinterzimmer-Fabriken können bald mit der billigeren Industrieware aus England nicht mehr mithalten. Auch die Handwerker leiden unter sinkenden Löhnen, zu viele Männer suchen hier ein Auskommen. Weite Teile der Bevölkerung haben nur das Nötigste zum Überleben. Die meisten ernähren sich von Kartoffeln.
In manchen Dörfern kommen die Hälfte der Bewohner der Bewohner nicht ohne Hilfe aus.
Die Regierenden beobachten die Massenarmut besorgt. Fürchten, sie könnte die politische Stabilität bedrohen. Tatsächlich protestieren die Menschen, stürmen hier eine Metzgerei
oder rauben dort Marktstände aus. Die Fürsten fürchten, dass aus den Brotkrawallen und Kartoffelunruhen ein gewaltsamer Umsturz erwachsen könnte.
1847 ist es fast so weit: Als sich die Preise für Kartoffeln und Brotgetreide verdoppeln bis verdreifachen, brechen in rund 100 deutschen Städten Hungerrevolten aus. Ein aus Amerika eingeschleppter Pilz hatte zuvor die Kartoffelernten verdorben. In Berlin stürmen
mehrere Tausend Menschen zwei Tage lang Bäckereien und Schlachterläden.
Den Verzweifelten bleibt nur der Aufstand oder die Flucht. Die Auswanderung sei „ein bewährtes Heilmittel für einen kranken Volkskörper und geeignet, Revolutionen zu dämpfen“, schreibt Freiherr Hans Christoph von Gagern aus dem Herzogtum Nassau 1816 an den österreichischen Außenminister Metternich.
Von Gagern wirbt dafür, Arme bei der Ausreise zu unterstützen. Als Mitglied der Stände-Versammlung des Großherzogtums Hessen erwirkt er 1820, dass die Freiheit des Einzelnen, aus seinem Staat auszuwandern, als Recht in einer neuen Verfassung verankert wird
Nun darf jeder das Großherzogtum verlassen, der schuldenfrei ist, in keine polizeiliche Untersuchung verwickelt und nicht versucht, sich dem Kriegsdienst zu entziehen
Minderjährige müssen mit auswandern und verlieren wie ihre Eltern die Staatsangehörigkeit.
Ähnliche Regelungen gelten in anderen deutschen Staaten. Zunächst ziehen die Wirtschaftsflüchtlinge nach Russland oder Österreich. Immer mehr Menschen versuchen auch, über den Atlantik zu gelangen, vor allem in die USA.
Zehntausende zieht es über den Atlantik. Ganze Familienverbände brechen auf, lassen höchstens die Großeltern zurück. Jeder Immigrant darf in den USA auf Regierungsland siedeln. Tagelöhner, Handwerksgesellen und Kleinbauern träumen davon, für sich und
ihre Kinder ein Stück Wald zu roden, einen eigenen Bauernhof aufzubauen.
Bald entwickeln Reeder und Schiffsmakler ein neues, lohnendes Geschäftsmodell: Agenten eröffnen Büros im Binnenland, etwa in Mainz, und verkaufen in deren Auftrag Plätze auf den Schiffen. Werber ziehen über die Dörfer und sammeln wiederum gegen Provision Passagiere für die Agenten.
Spezielle Zeitungen widmen sich ab 1846 dem Interesse an Übersee, sie drucken sentimentale Gedichte, aber auch Reisewarnungen, berichten über Siedlungsprojekte.
Und in vielen deutschen Städten entstehen Vereine, die die Auswanderung fördern - oder gar versuchen, Kolonien in Amerika zu gründen. Diesen Organisationen fehlt allerdings das
Geld, um das Grundproblem zu lösen:
auswandern kann nur, wer genug angespart hat. Gerade jene aber, die in verzweifelter Lage sind, können die 70 bis 100 Gulden für die Schiffspassage nicht bezahlen. Etliche Dörfer verkaufen daher ihren gesamten Gemeinbesitz, die Menschen überlassen ihre Häuser und
Höfe wieder dem Wald und gehen fort.
So manche hessische Gemeinde glaubt, dass es für sie auf Dauer günstiger ist, den Armen eine Reise zu bezahlen, als sie Jahr für Jahr zu unterstützen. Zwar kümmern sich auch Kirchen und wohlhabende Bürger um Bedürftige, doch vor allem sind es die Gemeinden die Waisenhäuser und Spitäler unterhalten müssen. Staatliche Unterstützung gibt es noch nicht.
Und wie ist es den Auswanderern aus Groß-Zimmern ergangen:
Am 14. September 1846 legt Ihr Schiff die Atlas“ in New York an. Tags darauf müssen die Passagiere von Bord gehen, und wissen nicht wohin: Die Besatzung hat Ihnen keine Zeit gelassen, sich Bleibe und Arbeit zu suchen.
Überfordert und erschöpft bleiben die meisten der rund 300 Groß-Zimmerer
auf der Pier er wo sie abends ein Polizist aufliest. In den nächsten beiden tagen werden viele von Ihnen ins Armenhaus eingewiesen.
Ende September leben von inzwischen 567 eingetroffenen Groß-Zimmerern 429 in städtischer Fürsorge. Und lösen einen Aufruhr in der Presse aus.
Wie genau es den Groß-Zimmerern später ergeht, ist nicht bekannt: Ihre Briefe
in die Heimat sind nicht erhalten, allein Berichte aus zweiter Hand und die Aufzeichnungen des New Yorker Armenhauses überdauern die Zeit. Doch diese Einrichtung ist zumindest keine Endstation: Nur 25 Hessen leben nach einem Jahr noch dort. 20 Groß-Zimmerer sind gestorben, zwölf davon Kinder.
Vermutlich sind die Familien irgendwann weitergezogen. Vielleicht schlossen sie sich jenen Groß-Zimmerern an, die sich gemäß einem in einer hessischen Zeitung zitierten Brief in Utica im Staat New York ansiedeln, vielleicht haben Sie aber auch in der Stadt Arbeit gefunden.
Seit der Veröffentlichung der Artikel über den Zeitraum um Christi Geburt von Südniedersachsen haben sich viele neue Erkenntnisse z.B. über den Ort der Varusschlacht ergeben. Diese Erkenntnisse kann man am besten dem Artikel des "Spiegel" der Ausgabe 47 aus 2022 entnehmen. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit habe ich den Artikel nicht überarbeitet, da dann viele Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen würden.
Diese Auszüge stammen aus der "Geschichte des Odagser Kirchenspiels" von Erich Milbratz