Odagsen

Das wenige Jahrzehnte zuvor noch behäbige Agrarland hat sich durch die Industrielle Revolution binnen Kurzem zu einer hochmodernen Wirtschaftsmacht entwickelt - mit allen Konsequenzen:
mit 100 km/h durchqueren Eisenbahnen um 1900 das Deutsche Reich. Stahlbrücken spannen sich über die Flüsse, Telegraphenleitungen hängen entlang der Strecken. Die Bahnhöfe, von elektrischem Licht erhellt,
gleichen den Glaspalästen der Weltausstellungen, Schlössern oder Rathäusern.

Das Kaiserreich ist auf vielen Gebieten zum Pionier geworden. Noch 1880 lebten die meisten Deutschen auf dem Land, und das Reich exportierte Kuckucksuhren, Spielzeug und Haushaltswaren. Jetzt ist es weltweit
führend in Maschinenbau, Elektroindustrie, in Optik, Feinmechanik, Großchemie, der Herstellung von Medikamenten und Dünger.

Es ist eine Zeit unaufhörlicher Modernisierung. Zwar gibt es noch immer Landstriche, die vom Wandel unberührt scheinen, aber im Ruhrgebiet, in Schlesien und an der Saar erheben sich gewaltige Fabrikkomplexe
mit Hochöfen, Maschinenhallen und Fördertürmen aus den Landschaften. Zwischen 1871 und 1913 verdoppelt sich die Höhe der Einkommen, das Sozialprodukt verdreifacht sich.

Neue Bohrtechniken erschließen in den Zechen Flöze bis zu 2000 Meter unter der Erde. Moderne Verfahren beschleunigen und verbilligen die Herstellung von Stahl und Schmiedeeisen. 1913 ist das Reich der bedeutendste
Metallexporteur der Welt.

Wie erklärt sich dieser Aufstieg?

Entscheidend ist, dass die Reichsgründung von 1871 einen einheitlichen Wirtschaftsraum schafft. Zudem sinken auf dem schnell weiter wachsenden Schienennetz die Frachtraten und damit die Preise für Kohle und Stahl.
Die Fabriken profitieren von der guten Ausbildung der Facharbeiter, gewinnen Absolventen der Technischen Hochschulen und Universitäten. Ingenieure melden Zehntausende Patente an. Diesel- und Benzinmotoren, von deutschen
Erfindern konstruiert, revolutionieren Schiffs- sowie Autoantriebe.

Es entstehen riesige Industriekomplexe wie die des Stahlbarons Alfred Krupp, der bereits 1873 in Essen fast 12000 Arbeiter beschäftigt. .Schwerindustrielle wie: Krupp führen ihre Werke allerdings nach Gutsherrenart, fordern
unbedingte Treue von ihren Untergebenen.Die Arbeiter erhalten nach wie vor nur niedrige Löhne. Zudem ist die Schufterei in der Gluthitze der Schmelzöfen, in dem Getöse von Dampfhammern ungesund. Und bei Unfällen zahlen
die Versicherungen meist keine Entschädigung, denn die Beweislast liegt bei den Werktätigen.Dennoch sind sie nicht mehr völlig ohnmächtig. Arbeitskraft ist ein knappes Gut in den Jahren des Booms, und so wechseln viele
Beschäftigte die Stelle, wenn sich anders etwas mehr Geld verdienen lässt.

Immer weiter expandieren die großen Firmen und Betriebe, bilden Trusts und Kartelle, während kleinere Unternehmen verschwinden.

Neben den Werkshallen erstehen in diesen Großunternehmen nun Bürogebäude mit Lohnbuchhaltung, Rechnungswesen, Verwaltung. Ein neuer Typus des Beschäftigten zieht in die Großbetriebe ein: der Angestellte. Es
gibt es im Kaiserreich bereits 1,4 Million Angehörige dieser neuen Mittelschicht. Es ist eine neue Kaste mit eigenem Standesdünkel und Aufstiegswillen. Entschlossen sich von der Masse der Arbeiter abzuheben:
gewillt, sich ein Leben nach bürgerlich Normen einzurichten.

Mehr als die Hälfte der Deutschen aber zählt zur Arbeiterklasse. Und die führt nach wie vor ein dürftiges Leben. Zwar sinkt diedurchschnittliche tägliche Arbeitszeit zwischen 1871 und 1910 von zwölf auf 9,5 Stunden
- bei sechs Werktagen. In vielen Berufen aber sind die Tage nach wie vor unerträglich lang. Jede Krankheit, jeder Unfall bleibt eine existenzielle Gefahr - und das Alter ohnehin denn ab etwa 40 Jahren werden die meisten
Beschäftigten schlechter bezahlt.

In den Städten und Industrierevieren sind besonders die kleinen Wohnungen teuer. In Berlin verfügt 1875 über die Hälfte aller Unterkünfte nur über ein einziges beheizbares Zimmer, oft von vier Personen belegt. Und
schon das ist ein Privileg. Im Ruhrgebiet kann sich ein Fünftel aller Bergleute lediglich die Miete eines Betts leisten. Und so ist es durchaus nicht selten, dass sich drei Schichtarbeiter eine einzige Schlafstätte teilen.

Doch allmählich gewinnen die Werktätizen eine Ahnung eigener Macht: Im Frühjahr 1889 streiken im Ruhrgebiet 90 000 Bergarbeiter. Sie erzwingen eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, ein Verbot der Sonntagsarbeit und der
Nachtarbeit von Frauen. Die Arbeitskämpfe nehmen zu, es entstehen die ersten Gewerkschaften - im Jahr 1913 werden Sie 2,6 Millionen Mitglieder zählen.

Aber auch ein neues Instrument der Konfliktentschärfung wird in jenen Jahren erfunden: der Tarifvertrag. 1896 setzen Buchdruker die erste wirksame Einigung dieser Art durch, die fortan im ganzen Reich Bestand
hat. Anderthalb Jahrzehnte später gelten in Deutschland mehr als 11500 Tarifverträge.

Doch obwohl sich die Arbeitnehmer immer mehr Rechte erkämpfen — Frauen bleiben diskriminiert: Sie erhalten nur 60 Prozent des Lohns der Männer. Dabei schuften bereits 1855 eine Million weibliche Arbeitskräfte in
der Industrie, ein Fünftel aller Beschäftigten. Deshalb fordert die sich nun entwickelnde Frauenbewegung höhere Löhwe, bessere Arbeitsbedingungen und Mutterschutz für die Arbeiterinnen.
Um die weiblichen Angehörigen der Mitklasse kümmert sich der 1865 gegründete Allgemeine Deutsche Frauenverein“, der für das Recht auf höhere Bildung bürgerlicher Frauen eintritt, die bis dahin höchstens als Krankenschwestern oder  Lehrerinnen arbeiten können. Doch erst nach der Jahrhundertwende dürfen sich Frauen an einer deutschen Universität einschreiben, und das Wahlrecht bleibt ihnen bis zur Abdankung des Kaisers im Jahr 1918 verwehrt.
Auch der moderne Sozialstaat wird Ende des 19. Jahrhunderts begründet. Nicht aus Einsicht oder Menschenliebe, „sondern aus Furcht der herrschenden Klassen“, wie ein Mitarbeiter des Reichskanzlers Otto von Bismarck festhält.
1883 tritt eine Krankenversicherung für Arbeiter in Kraft; zwei Drittel der Beiträge müssen sie selbst aufbringen, die Unternehmer nur ein Drittel (ergänzende Reformen führen dazu, dass 1914 fast alle Lohnarbeiter und
Angestellten abgesichert sind). Ab 1884 gilt eine Unfallversicherung, 1889 wird die Renten- und Invalidenversicherung vom Reichstag verabschiedet. Allerdings wird die Rente erst ab dem 70. Lebensjahr gezahlt, das nur wenige erreichen
- 1913 beziehen nur 102000 Arbeiter von 16,3 Millionen Versicherten die staatliche Leistung.

Und doch wendet sich manches zum Besseren. 1893 verlassen Auswanderer letztmals in großer Zahl das Reich. Die Einkommen haben über die Jahre immer weiter zugenommen (wenn auch nicht so stark wie die Pro-
duktivität), die Preise steigen nur moderat.

Deshalb können viele Deutsche erstmals Geld auf ein Sparbuch tragen. 1913 betragen die Einlagen im Durchschnitt pro Sparer 825 Mark, das sind fast fünf Monatslöhne eines Bergarbeiters. Viele leisten sich nun etwas
mehr als das Allernötigste: vielleicht einen Sonntagsanzug, ein Fahrrad.

Warenhäuser offerieren diese Sehnsuchtsobjekte - strahlende Paläste, wie das 1894 eröffnete „Wertheim“ in Berlin, aber auch kleinere Kaufhäuser, die später in jeder Stadt eröffnen. Der Konsum der Massen wiederum
befördert das wirtschaftliche Wachstum. Und noch eine zweite Revolution neben der industriellen treibt die Ökonomie des Kaiserreichs voran: die der chemischen Industrie. Aus Teer, einem Abfallprodukt der Kokereien und Gasfabriken,
gewinnen Chemiker nun synthetische Farbstoffe, und so ist Deutschland um 1900 führend auf dem Weltmarkt der künstlichen Farben. Auch neue Arzneien entstehen in den Forschungslabors:
Schlafmittel wie Veronal oder Salvarsan, das die Syphilis kuriert.

Die Konzerne fabrizieren zudem nun künstliche Geschmacksstoffe, Kunstfasern sowie Kunststoffe — etwa Zelluloid, aus dem Gebisse, Messergriffe, abwaschbare Kragen und Hemdbrüste hergestellt werden (ab 1839 auch Filme).
Kunstseide lässt Kleider und Strümpfe erglänzen. Bakelit, der erste industriell produzierte Kunststoff überhaupt, dient als Werkstoff etwa für Billardkugeln. Und die Elektrizität offenbart ihr enormes Potenzial: Denn plötzlich
ist die Energie mobil! Nicht mehr, wie bei Dampfmaschinen, an den Ort ihrer Erzeugung gebunden, sondern nahezu verlustfrei über Hunderte Kilometer transportierbar.

Die Deutsche Edison Gesellschaft (aus der bald AEG wird) erbaut 1885 das erste Elektrizitätswerk in Berlin. Den teuren Strom nutzen anfangs nur Theater, Banken, Kaufhäuser, Restaurants und Hotels. Rasch aber wird die Glühlampe zum Massenartikel. Bügeleisen, Heizöfen und Warmwasserkessel erleichtern das Leben im Alltag.Strom treibt Irams und U-Bahnen an; elektrische Signale fließen durch Telefone (1910 gibt es schon eine Million Apparate).

Unternehmen bauen für die Städte eigene Elektrizitätswerke. Sie überspannen das Land mit einem Netz an Generatoren, Fernleitungen und Umspannwerken - bei der Elektrifizierung ist Deutschland allen anderen Industrienationen
bald um ein Jahrzehnt voraus. Elektrische Motoren, die ohne Transmissionsriemen auskommen, entfachen nach 1905 in der Industrie einen weiteren Boom. Firmen stellen zukunftsweisende Dynamos her, entwickeln hochauflösende Mikroskope.

Auch in anderen Branchen sind deutsche Forscher und Erfinder Weltspitze: Den Chemikern Fritz Haber und Carl Bosch gelingt es, Ammoniak zu synthetisieren, erstmals lässt sich nun Dünger industriell herstellen. Otto Lilienthal entwickelt den ersten Segelgleiter, Ferdinand Graf von Zeppelin wird zum Pionier der Luftschifffahrt.

Doch mit den technischen Innovationen sind auch neue Gefahren verbunden. Züge entgleisen, weil die Bremsen versagen, Automobile (bis 1914 werden in Deutschland 100 000 gebaut) stoßen auf den Boulevards zusammen, Flugzeuge
stürzen ab, Luftschiffe verunglücken.

Als 1908 in Berlin zwei U-Bahnen auf einem Viadukt kollidieren, sterben 21 Fahrgäste — ein Fahrer hatte ein Haltesignal übersehen. Er gibt später als Ursache „vermehrte Schwindelanfälle“ an. Fast ist es so, als würde das Tempo des
Wandels die Menschen überfordern. Als wäre die Beschleunigung des Lebens in dieser Hochphase der Industrialisierung einfach zu groß.

Nichts, so scheint es, ist noch stabil und verlässlich in diesem Land. Kein Wunder:
Allein zwischen 1890 und 1913 nimmt die Bevölkerungszahl von 49,4 auf 66,9 Millionen Menschen zu - um ein Drittel in nicht einmal einer Generation.

Hunger und Seuchen, die großen Schnitter früherer Zeiten, sind zum ersten Mal nicht mehr alltäglich. Neue Techniken erhöhen die Ernten in der Landwirtschaft, Waren kön-
nen per Zug und Schiff über weite Strecken herangeschafft werden, Frischwasserleitungen und Kanäle verbessern die öffentliche Hygiene. In den Universitäten und neu entstehenden Pharmafirmen ersinnen Ärzte, Physiker
und Chemiker vom Aspirin bis zum Röntgengerät revolutionäre neue Medikamente, Diagnose und Heilverfahren.

Aber es leben nicht bloß mehr Menschen im Kaiserreich — sie durchwandern es auch, ruhelos und sprunghaft. Fast jeder zweite Deutsche lebt 1907 nicht mehr an dem Ort, an dem er einst geboren wurde.

Die Fabriken und die Mietskasernen der Metropolen saugen die Bürger förmlich ein. Vor allem aus dem Osten, aus Ostpreußen und Posen, strömen Menschen fort — Auswanderer im eigenen Land. Es zieht sie nach
Berlin sowie in die Industriezentren Schlesiens und des Ruhrgebiets.

Berlin bläht sich zur Zwei-Millionen-Metropole, Hamburg wächst um das Zweieinhalbfache auf 932000 Einwohner, und selbst ein Provinznest wie Hamborn, das 1890 nur 4260 Bürger zählte, hat zwei Jahrzehnte
später mehr als 100000 Einwohner.

So stolz die Zeitgenossen auf die Entwicklung sind (Deutschland ist nach dem russischen Zarenreich das bevölkerungsreichste Land Europas), so verunsichert sind sie auch über die in dieser Zeit entstehende
„Massengesellschaft“.

Denn die Deutschen werden zu Städtern. Bei der Reichsgründung 1871 lebten noch zwei von drei Untertanen des Kaisers auf dem Land - 1910 wohnen dagegen bereits zwei Drittel der Bevölkerung in der Stadt.
Experten entwerfen nun Bebauungspläne, um das urbane Durcheinander zu ordnen: in Wohnviertel, Gewerbegebiete, Parks, Zentren der Verwaltung und des Kommerzes. In Hamburg etwa lebte 1871 noch die Hälfte der
Bevölkerung in der Innenstadt, 1910 ist es nur noch ein Zehntel; der große Rest ist inzwischen verdrängt von Büros und Geschäften und im schicksten Wohnviertel der Hansestadt sind die Mieten 800-mal so hoch wie
im ärmsten. Deshalb auch sind die Städte keine Schmelztiegel: Reich und Arm leben streng geschieden, allenfalls die alten Differenzen schleifen sich, denn in den Metropolen flanieren die Gläubigen beider Konfessionen
nun Schulter an Schulter.

Gas bringt Licht und Wärme in die Städte, bis 1910 wird fließendes, sauberes Wasser zur Selbstverständlichkeit. Starb im Jahr der Reichsgründung (1871) noch jedes vierte Baby im ersten Jahr (bei armen Textilarbeiterinnen
die kurz nach der Geburt wieder schuften mussten, waren es sogar zwei von drei Kinder), so reduziert sich dieser traurige Wert auch dank neuer Hygiene bis 1914 um immerhin ein Drittel.

Die Elektrizität schließlich wird zum Symbol der Städte schlechthin: Das Licht der Lampen flimmert durch die Nacht. (Die größten Stromverbraucher allerdings sind die ebenfalls neu entwickelten Straßenbahnen.) So wird die Stadt zur Bühne des Alltags, und sie wird das vor allem für das Bürgertum.
Denn der Adel, ohnehin bloß eine winzige Macht, lebt auf Landgütern oder kreist um knapp zwei Dutzend Fürstenhöfe sowie um dii die Kasernen und Paradeplätze, wo die Offiziere von Stand dominieren.
Und die Arbeiter brauchen länger, um in der Stadt anzukommen. Sehr viele von ihnen, ledig und jung, wechseln oft mehrmals im Jahr Bleibe und ziehen gar ganz fort, auf der zielosen Suche nach dem Glück in der
nächsten Stadt, der nächsten Fabrik, dem nächsten Gewerbe. Der Anblick von Familien, die mit Handkarren und Leiterwagen Ihre Habe durch die Straßen schleppen, ist alltäglich.
Das Bürgertum also: vielleicht 15 Prozent der Bevölkerung. Eine Schicht auch der Neureichen, die ihren Wohlstand präsentieren, dem Adel buckeln und das Proletariat verachten. Vom Kaiser lassen sich solche
Parvenüs gern in Ermangelung anderer Auszeichnungen den Ehrentitel „Kommerzienrat“ verleihen, der den angenehmen Nebeneffekt hat‚ bei Geschäftsverhandlungen die eigene Kredditwürdigkeit zu erhöhen.

Überhaupt blüht unter dem Kaiser dieunststvoll versteckte materielle Absicherung des Bürgers. Wer es auch nur zu ein wenig Wohlstand gebracht hat, der richtet sich nun eine "Gute Stube“ ein - einen Schauraum fürs
Prestige „im Alltag oft genug verschlossen, auf das sich die kostbaren Einrichtungsstücke nicht abnutzen.

Die Hüterin der guten Stube ist die Ehefrau: Meist heiraten Bürgerinnen mit Mitte zwanzig, der Bräutigam ist oft einige Jahre älter„ man hat sich standesgerecht kennengelernt, bei Hausbällen, Bildungsreisen,
Kuraufenthalten oder Konzerten. Mesalliancen zwischen Reich und Arm sind skandalös und entsprechend selten.

Das Bürgerliche Gesetzbuch - ein im Jahr 1900 in Kraft tretendes Monument wilhelminischer Jurisprudenz — erklärt den Ehegatten zum Vormund der Kinder und Verwalter des Vermögens, und selbst eine
Scheidung ist nun schwerer durchzusetzen als zuvor nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794.

Kaum ein Mädchen darf eine Oberschule oder gar die Universität besuchen. Noch der berühmte Physiker Max Planck erklärt, dass „die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und Hausfrau vorgeschrieben“ habe
- wobei sich allerdings niemand die Mühe macht, die Mädchen wenigstens auf den Beruf Mutter vorzubereiten. Aufgeklärt werden sie schon gar nicht, und so ist die Hochzeitsnacht oft genug ein Schock. Deshalb fliehen viele
Frauen in Migräneanfälle und nervöse „Unpässlichkeiten“ — oder in die modernen Kaufhäuser, eine Erfindung jener Zeit.

Dort immerhin vollziehen sie, wortwörtlich, eine Befreiung: Um 1900 zwängt sich die Bürgerin aus dem Korsett, die Kleidung wird luftiger. Die Dame von Welt treibt nun Sport und fährt, wie revolutionär, mit dem
Fahrrad, auch ohne Begleitung durch einen Herrn. „Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen“,
erklärt 1905 Rosa Mayreder - eine Frauenrechtlerin.

Ungeheuer bleibt hingegen der Druck von Herrn und Frau Kommerzienrat auf ihre Söhne. Die sollen pauken, denn das Bildungspatent ist die Eintrittskarte zur Karriere. Der Schriftsteller Theodor Fontane beklagt
die „Verlederung“ des deutschen „Examensvolkes“, das in Bildungshuberei erstarre, mit durchaus tragischen Konsequenzen. „Wie Eisenbahnunfälle und Abstürze von Touristen, so scheinen auch Schülerselbstmorde in
Deutschland zu einer stehenden Zeitungsrubrik zu werden“, bilanziert ein Gymnasialprofessor 1908.

Langsam nur öffnen sich Fluchten, weg von der Pression der Ehrbarkeit, des Aufstiegs, der Wohlstandsabsicherung. Arbeiten die Menschen im Jahr 1871 in der Regel noch zwölf Stunden an sechs Tagen in der Woche,
so wird um 1900 in einigen Branchen der freie Samstagnachmittag üblich, die Arbeitszeitsinkt auf manchmal bloß noch zehn Stunden am Tag. Die Arbeitslosenquote liegt 1890 bei unter drei Prozent, die Wirtschaft hat
Hochkonjunktur, es sind gute Zeiten auf dem Arbeitsmarkt. Nun erschließt sich den Angestell ten und Arbeitern eine völlig neue Domäne: die Freizeit. Vor allem die Bürger verbringen sie im Konsumrausch, kaufen Kaffee und Tee aus
den Kolonien und 1907 erstmals das Waschmittel „Persil“, ein Produkt der boomenden Chemieindustrie, für das geworben wird (Reklame ist ebenfalls eine Erfindung des Zeitalters). Zigaretten werden vom Luxusaccessoire zum
Allgemeingut, gerade auch für die Dame.

Die freie Zeit verbringen die Menschen jetzt im Variete, im Tanzlokal oder Kino: 1895 zeigt der Berliner Wintergarten die ersten „lebenden Fotografien“, 1914 glitzern schon 2000 „Lichtspielhäuser“ im Reich. Und wer
es sich leisten kann, entkommt im eigenen Automobil dem Verkehrsgewimmel der Metropole in die Sommerfrische am Meer oder in den Bergen. Danach geht es zurück in den Alltag der Städte, wo sich die Leute schneller bewegen
als auf dem Land. Wo sich durch den Einfluss der Massenmedien die Dialekte abschleifen und das Hochdeutsch herausbildet. Und wo die „BZ am Mittag“, die sich selbst als „schnellste Zeitung der Welt“ rühmt, die Kurse
der Berliner Börse schon 30 Minuten nach deren Schließung auf dem noch druckfeuchten Papier präsentiert.

Immer rascher pulst das Leben, immer hektischer müht sich der Bürger. Doch wohin? Und wozu? Fast scheint es, als sei in all der rasenden Bewegung der innere Kompass verloren gegangen, als staue sich hinter den
Neorenaissance-Fassaden der wilhelminischen Ära eine aggressive Geschäftigkeit an, der nur noch Ziel und Anlass fehlt, um hervorzubrechen gegen die Welt.

„Die Zeit“, notiert der bekannte Kulturkritiker Alfred Kerr in einem Fazit am letzten Tag des Jahres 1899, „ist aus den Fugen.“

 Ich habe hier zwei Artikel zusammengefasst, beide stammen aus der Zeitschrift "Geo Epoche Panorama Nr. 15"

 

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