Odagsen

Königreich Westphalen

Auch Odagsen gehörte zwischen 1807 und 1813 zum Königreich Westphalen: Hier ein überarbeiteter Artikel aus der "GEO Epoche Nr. 98 "Deutschland unter Napoleon":

Die alte Landgrafschaft Hessen-Kassel gibt es nicht mehr, ihr Herrscher Kurfürst Wilhelm 1. ist vor Napoleons heranrückenden Truppen ins Exil geflohen. Seit Dezember 1807 sind die Menschen hier Bürger eines neuen Staates: des Königreichs Westphalen.

Am 1. Juli 1808 leisten etliche westphälische Regimenter vor ihrem jugendlichen König in Kassel den Treueid. Fortan werden sie nicht für ein deutsches Fürstengeschlecht in den Krieg ziehen, sondern für einen von Frankreich dominierten Staat. Denn das Königreich Westphalen ist eine Schöpfung Napoleons, Jerome ein Monarch von dessen Gnaden. Das eigenartige politische Gebilde soll den deutschen Landen als Modell dienen, soll ihren Bewohnern die Vorzüge des modernen Staatswesens französischer Prägung vorführen.

Das Leben der Menschen im Königreich Westphalen wird sich tiefgreifend verändern, in großen Fragen wie in kleinen Details. Seine Bewohner werden die ersten Untertanen eines deutschen Staates sein, denen eine Verfassung Bürger- und Menschenrechte zusichert. Sie werden Freiheiten genießen, die sie nicht kannten, werden ungehindert durch ihr Land reisen können, ihren Beruf und Wohnsitz unbeschränkt wählen dürfen. Doch sie werden auch spüren, dass es den französischen Herrscher vor allem um Macht geht.

Sie werden verzweifeln, weil die neue Gleichheit nicht für alle gilt. Werden lernen, dass auch die Freiheit ihre Grenzen findet, wenn Napoleon Geld oder Truppen braucht. Und sie werden schließlich in den Feldzügen des französischen Kaisers sterben.

Denn schon bald nach 1789 hat das revolutionäre Frankreich begonnen, seine Macht auf die deutschen Lande auszudehnen. In einem Krieg gegen Österreich und Preußen muss es zunächst Niederlagen hinnehmen, dann aber kämpft die im Herbst 1792 ausgerufene Republik immer erfolgreicher und erobert bis 1794 das Rheinland.

In dieser Zeit ist Deutschland ein Mosaik aus Hunderten Staaten unterschiedlichster Größe. In den meisten dieser Gebiete regieren weltliche oder kirchliche Feudalherren; sie alle sind lose im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zusammengeschlossen, an dessen Spitze seit Jahrhunderten Kaiser aus dem österreichischen Hause Habsburg stehen. Odagsen gehört zu dieser Zeit zum Kurfürstentum Hannover.

Napoleon schlägt um 1800 Österreich mehrfach, die Habsburger müssen die französische Kontrolle über die linksrheinischen Reichsgebiete, die Niederlande und große Teile Oberitaliens anerkennen. Um Frankreichs Rolle als mächtigster Staat Europas zu sichern, will Napoleon nun seinen Einfluss im Heiligen Römischen Reich erweitern -indem er jene deutschen Fürstentümer stärkt, die ihm wohlgesonnen sind. Deren Herrscher wiederum streben nach Gebietsgewinnen sowie nach Unabhängigkeit von der Großmacht Österreich - und sind dafür bereit, mit Frankreich zu paktieren.

Auf Napoleons außenpolitischen und militärischen Druck hin beschließt der Reichstag 1803 die Auflösung von Hunderten deutscher Kleinstaaten, deren Gebiete den größeren Fürstentümern zufallen, vor allem Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt. Bald darauf erhebt der Franzose deren Herrscher zu Königen und Großherzögen.

1806 fordert Napoleon eine Gegenleistung ein: Er drängt die von ihm abhängigen Fürsten, aus dem Heiligen Römischen Reich auszutreten und eine militärische Allianz unter der Führung Frankreichs einzugehen, den Rheinbund. Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt sowie eine Reihe kleinerer Fürstentümer sind nun mit Frankreich verbündet.

Nur drei bedeutende deutsche Staaten gehören nicht zur Allianz: Preußen, das Kurfürstentum Sachsen und Österreich. Napoleon ist es gelungen, eines seiner Ziele zu erreichen: die deutsche Staatenwelt zu spalten. Und tatsächlich bricht das Heilige Römische Reich kurz darauf zusammen:

Am 1. August legt Kaiser Franz II. die Krone des Reiches nieder. Jetzt bleibt dem Franzosen nur noch ein nennenswerter Rivale in deutschen Landen: Preußen, das mit Kursachsen verbündet ist. Im Herbst 1806 schlägt Napoleon das veraltete preußische Heer bei Jena und Auerstedt. Kursachsen tritt nach der Niederlage dem Rheinbund bei, Preußen muss fast die Hälfte seines Territoriums abgeben.

Napoleon kontrolliert nun auch die nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten; etliche, darunter Mecklenburg und die thüringischen Fürstentümer, schließen sich dem Rheinbund an. Andere löst der französische Kaiser ganz auf: Ihre Gebiete werden Teil von zwei Satellitenstaaten, die Napoleon neu gründet, um Frankreich gegen ein möglicherweise wiedererstarkendes Preußen zu schützen - zum einen das Großherzogtum Berg mit der Hauptstadt Düsseldorf, zum anderen das Königreich Westphalen.

Für Letzteres verschmilzt Napoleon vormals preußische Lande westlich der Elbe mit Hessen-Kassel, dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, mehreren früheren Bischofsherrschaften, Teilen Kurhannovers und weiteren Gebieten. Das Königreich Westphalen ist der größte Staat, den Napoleon in Deutschland formt. Er reicht von Halle an der Saale bis Osnabrück, von Stendal bis Marburg (später werden sich seine Grenzen mehrfach verschieben). Zwei Millionen Deutsche sind fortan Untertanen des Königs von Westphalen. Das Reich soll ebenso wie das Großherzogtum Berg Modellcharakter haben.

Am 10. Dezember 1807 trifft Jerome in Kassel ein der Hauptstadt seines neuen Königreiches. Kassel, mit 18500 Einwohnern nach Braunschweig und Magdeburg die drittgrößte Stadt des Königreichs, hat Napoleon bereits 1806, nach dem Sieg über Preußen, von seinen Soldaten besetzen lassen; der Kurfürst hatte sich geweigert, dem Rheinbund beizutreten. Die Stadt eignet sich vorzüglich als Kapitale: wegen der zwei Schlösser, der Orangerie, der repräsentativen Oberneustadt mit ihren schnurgeraden Sichtachsen und dem kreisrunden Königsplatz, der neuerdings „Place Napoleon“ heißt. Zudem liegt sie anders als die anderen Großstädte - in sicherer Entfernung zur preußischen Grenze.

Schon Monate vor Jeromes Ankunft hat Napoleon einige seiner fähigsten Beamten nach Kassel geschickt. Joseph Jerome Simeon, Professor der Rechtswissenschaft und einer der Urheber des „Code civil“, des französischen Zivilgesetzbuchs, arbeitet nun an der Gründung eines westphälischen Justizwesens.

Jacques Claude Beugnot, zuvor Präfekt eines Departements in der Normandie, soll ein modernes Finanzsystem entwerfen. Und mit Jean-Baptiste-Moise Jollivet bereitet ein weiterer hochrangiger Experte, der bereits in den linksrheinischen Gebieten die französische Verwaltung eingeführt hat, den Ausbau des Königreichs Westphalen zum Modellstaat vor.

Dessen Bevölkerung sehnt die erwarteten Reformen offenbar förmlich herbei: Im ganzen Land richten die Menschen Feste zu Ehren des neuen Herrschers aus, halten Lobreden auf Jerome. Dass der König ein Franzose ist, stört die meisten wohl eher nicht. Sie sind daran gewöhnt, dass der Hochadel nach Kriegen oder durch Hochzeiten Gebiete tauscht, dass Fürstengeschlechter kommen und gehen.

Jeromes Kabinett, dessen erste Besetzung Napoleon persönlich zusammengestellt hat, gehören neben den französischen Fachleuten auch Deutsche an. Publizisten, Historiker, Juristen nehmen hohe Positionen im Königreich ein - Vertreter des städtischen Bürgertums und überzeugte Reformer, die den alten fürstlichen Regierungen nicht nachtrauern.

Sie treibt der Ehrgeiz an, einen modernen Staat zu erschaffen. Die Minister und höheren Beamten verständigen sich auf Französisch, das auch die Deutschen unter ihnen beherrschen. Bereits im November 1807 hat das Königreich - als erster deutscher Staat - eine moderne Verfassung bekommen. Nach französischem Vorbild sind die Sonderrechte des Adels abgeschafft, eine einheitliche Verwaltung und religiöse Toleranz festgeschrieben. Vom 1. Januar 1808 an gilt zudem der „Code Napoleon“, wie der Code Civil inzwischen offiziell heißt.

Die Einwohner des Königreichs, bislang der Willkür ihrer jeweiligen Landesfürsten ausgeliefert, genießen damit erstmals verbriefte Rechte, die selbst der Monarch nicht ändern kann. Der zehnte Artikel der Konstitution etwa garantiert ihnen „die Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetze“: Das Verfassungsdokument, von Napoleon eigenhändig unterschrieben, markiert das Ende der Feudalgesellschaft.

Schon nach wenigen Wochen spüren die Bürger erste Veränderungen. Kursierten bislang Dukaten, Taler, Gulden oder Mark, sollen Jeromes Untertanen künftig mit Westphälischen Franken bezahlen, die das Konterfei des Königs oder dessen Initialen tragen und jeweils in 100 Centimes unterteilt sind.

Die Regierung lässt Umrechnungstabellen drucken, die Haushalten und Gewerbe die Umstellung erleichtern sollen. Und anstelle unterschiedlichster Hohl- und Gewichtsmaße wie Scheffel, Eimer oder Korb, deren Größe stets nur für ein bestimmtes gemessenes Gut gilt und in jeder Region anders festgelegt ist, herrscht fortan das metrische System aus Litern, Metern und Kilogramm, unterteilt in Dezimalschritte.

Auch die Grenzen verschieben sich. Im Inneren des Landes verschwinden die Schranken zwischen den verschiedenen Territorien, die nun Teil des Königreichs geworden sind. Dafür gibt es neue Verwaltungseinheiten: Die westphälischen Beamten teilen das Staatsgebiet in acht Departements auf, alle etwa gleich groß und säuberlich untergliedert in Distrikte und Kantone. Behörden und Gerichte werden in zentral gelegenen Hauptorten zusammengeführt. Die kleinsten Einheiten sind die Munizipalitäten, denen jeweils ein Maire vorsteht. Odagsen gehört nun zum Department Leine und hier zum Kanton Rotenkirchen.

 

Das Justizwesen wird ebenfalls vereinheitlicht und neu geordnet: Die Patrimonialgerichte, mit denen die Grundherren zuvor die niedere Gerichtsbarkeit in ihren Ländereien ausübten, gibt es nun nicht mehr. Ebenso müssen Städte und Kirchen auf ihre eigene Rechtsprechung verzichten, zugunsten einer unabhängigen Justiz mit mehreren Gerichtsinstanzen.

Die Kasseler Regierung trennt zudem die Privateinnahmen des Monarchen von der Staatskasse - in den alten Fürstenstaaten wurden die weitgehend identisch behandelt - und zieht die meisten Abgaben fortan zentral ein. Künftig sollen darüber hinaus keinerlei ständische Steuerprivilegien mehr gelten, der Adel muss ebenso zahlen wie Kaufleute oder Handwerker.

Erstmals haben nun auch Nicht-Adelige die Chance, die Geschicke des Staates und der Kommunen zu lenken; sie nehmen bald die meisten Posten der Gemeindevorsteher ein. Selbst die Mitglieder der Munizipalräte, denen die Verwaltung der Kommunen zukommt, werden von der Regierung in Kassel ernannt. Sie sind jetzt die untersten Glieder eines straff zentralisierten Staatsapparates, der auch die Präfekten und Unterpräfekten auf Departements- und Distriktebene streng kontrolliert. Sie alle setzen die Linie der Kasseler Regierung um, landesweit und ausnahmslos - jedenfalls in der Theorie.

Denn in vielen Dörfern verlaufen die Reformen nicht so, wie die Modernisierer sie planen. Die örtlichen Honoratioren geben sich mitunter äußerst widerspenstig. So gelingt es einem Unterpräfekten trotz Strafandrohung und geharnischter Briefe nicht, in einem Dorf bei Bielefeld die staatliche Armenfürsorge durchzusetzen. Die Zentrale in Kassel hat zuvor von den regionalen Behörden Regelungen dafür gefordert, wer zu welchen Bedingungen ein Anrecht auf Unterstützung hat. Der örtliche Maire aber riskiert lieber den Konflikt mit seinem Vorgesetzten, als sich gegen den Pastor seiner Gemeinde zu stellen, der jeden staatlichen Eingriff in die traditionelle Armenhilfe ablehnt. Resigniert muss der Unterpräfekt feststellen, seine Mahnungen seien „auf eine mir ganz unbegreifliche Weise ohne alle Wirkung geblieben“.

Damit sich die gewöhnlichen Untertanen an die Gesetze halten, patrouillieren in den Straßen nun Gendarmen, zu Fuß oder zu Pferde, mit Säbel, Dragonergewehr und zwei Pistolen. Der Kasseler Polizeipräfekt Joseph de Bercagny baut überdies die „Hohe Polizei“ auf, eine Art Geheimdienst, dessen Spitzel die Stimmung im Land erspüren und möglichen Widerstand von vornherein unterbinden sollen.

Die Menschen im Königreich wissen bald: Die Zeitungen, die sie lesen, haben Bercagnys Leute zuvor zensiert; die Briefe, die sie schreiben, landen womöglich auf den Schreibtischen der Geheimpolizisten, ehe sie ihre Empfänger erreichen; und besuchen sie einen Ball, ein Kaffeehaus, eine Schänke, müssen sie damit rechnen, dass am Nebentisch ein Spitzel sitzt.

Die meisten seiner Agenten rekrutiert Bercagny unter der deutschen Bevölkerung. Sie horchen Knechte, Handwerker, Kaufleute und oftmals auch Beamte aus. Ob die Überwachten für franzosenfeindliche Äußerungen tatsächlich Repressalien zu erleiden haben, ist nicht überliefert. Bercagny selbst, den die Kasseler bald als „Großinquisitor“ schmähen, verliert allerdings schon 1809 seinen Posten, als bekannt wird, dass er sogar den Finanzminister bespitzeln lässt.

DABEI HABEN VIELE MENSCHEN wenig Grund, geheime Pläne gegen die neuen Herrscher zu schmieden; ihnen bringt die neue Zeit zunächst vor allem Vorteile. Die Juden etwa genießen nun viele ungekannte Freiheiten und Rechte. Bislang durften sie beispielsweise nicht aus den Vierteln fortziehen, die ihnen von den Fürsten zugewiesen worden waren - in Kassel lebten sie in dreckigen Gassen zwischen steil aufragenden Häusern. Jerome aber erlässt ein Dekret, das die Juden in seinem Königreich von sämtlichen Sonderabgaben und dem entwürdigenden Leibzoll befreit, den sie bisher an Grenzen entrichten mussten, und ihnen zudem zugesteht, dass sie (anders als in allen anderen Staaten Europas) fortan ihren Wohnort und ihren Beruf frei wählen dürfen.

Auch Handwerker erleben eine neue Offenheit. Weber, Tischler oder Schmiede waren in den Städten bislang zur Mitgliedschaft in Zünften gezwungen - kartellartigen Bünden, in denen die etablierten Meister bestimmten, wer wie viele Produkte oder Dienste zu welchem Preis anbieten durfte. Die Zünfte überwachten sogar den privaten Lebenswandel ihrer Mitglieder. Doch vom 1. Januar 1809 an reicht es, dass Handwerker ein Patent erwerben, um dann selbst zu entscheiden, welches Gewerbe sie wo und wie ausüben. Wenig später löst Jerome die Zünfte auf und erklärt ihr Vermögen zu Staatseigentum.

Nachdem das Zunftmonopol gebrochen ist, lassen sich vor allem Schneider, Tischler und Schuhmacher neu nieder: ältere Gesellen zumeist, denen die Zünfte die Meisterzulassung vorenthalten hatten. In Kassel empfehlen sich Bierbrauer und Schnapsbrenner, Sattler und Schneider als königliche Lieferanten, Juweliere machen gute Geschäfte mit den Hofdamen.

Wer Kassel verlässt, gelangt fortan schneller und bequemer ans Ziel. Noch 1807 musste ein Reisender auf der rund 200 Kilometer langen Strecke von Kassel nach Osnabrück die Grenzen zu Preußen und Kurhannover überqueren. Auf Waren war an etlichen Brücken und Stadttoren Zoll fällig. All diese Hindernisse sind verschwunden, und die Kasseler Regierung arbeitet daran, die Hauptstadt besser mit den einzelnen Lan desteilen zu verbinden. Bislang gab es kaum befestigte Straßen im Gebiet des Königreichs, die meisten Strecken bestanden aus holprigen Pisten oder morastigen Hohlwegen. Nun aber ist ein Generalinspektor für den Bau moderner Chausseen verantwortlich. Ingenieure vermessen das Gelände und planen die Trassen, Fuhrleute schaffen Steine und Gerät herbei, Tagelöhner planieren das Erdreich, heben Entwässerungsgräben aus, pflastern die Fahrbahndecke.

Und doch: Die französische Politik bringt nicht nur Vorteile. Denn die neu gestaltete Verwaltung, die straffen Hierarchien, dierationale, vereinheitlichte Ordnung dienen nicht allein dazu, den Deutschen die Segnungen eines modernen Gemeinwesens zu präsentieren. Der Modellstaat ist vor allem ein Machtinstrument, das Napoleons Vorherrschaft in Europa sichern helfen soll.

Um den Erzrivalen Großbritannien zu ruinieren, hat der französische Kaiser bereits 1806 ein Handelsembargo verkündet: Sämtlichen britischen Schiffen ist es seither verboten, einen Hafen auf dem europäischen Festland anzulaufen. Ebenso dürfen die Staaten in Napoleons Machtbereich keine Frachter mehr zu den Britischen Inseln entsenden.

Diese „Kontinentalsperre“ trifft vor allem Norddeutschland empfindlich. Bald gehen den Zuckerraffinerien und Kaffeeröstereien in Hamburg und Bremen die Rohstoffe aus, die sie bisher aus dem britischen Kolonialreich bezogen haben. Getreidehändler, Leinenfabrikanten und Salzproduzenten im Königreich Westphalen müssen ebenfalls Einbußen hinnehmen, da ihnen die britischen Absatzmärkte versperrt sind. Schlimmer noch als die Kontinentalsperre sind für das Exportgewerbe jedoch die Anordnungen Napoleons, die französische Wirtschaft zu fördern: Auf Einfuhren ins Kaiserreich und in Satellitenstaaten wie das Königreich Holland lässt er hohe Schutzzölle erheben. Die Profite deutscher Handelshäuser und Manufakturen nehmen ab. Trotz Gewerbefreiheit, geringerer Handelshemmnisse im Inneren und anderer Reformen ist die Wirtschaft im Niedergang.

Doch nach Ansicht Napoleons setzen die norddeutschen Regierungen die Kontinentalsperre nicht entschlossen genug durch. Tatsächlich versuchen viele Menschen an den Küsten, darunter auch hanseatische Kaufleute, sich gegen das Embargo zu behelfen: Mit kleinen Schiffen schmuggeln sie nachts beispielsweise vom britisch besetzten Helgoland Baumwolle, Kaffee, Zucker oder Tabak ans Festland. Bestechliche französische Beamte und Offiziere helfen ihnen dabei.

Von 1810 an setzt Napoleon deshalb Sondergerichte ein, die den Schmuggel stoppen sollen. Kontrolleure fahnden in den Rheinbundstaaten nach britischen Waren. In Frankfurt beschlagnahmen französische Soldaten das illegale Gut von 200 Kaufleuten und verbrennen es auf dem Marktplatz. Zöllner, die Schmugglern helfen, müssen Haftstrafen oder sogar den Tod durch ein Erschießungskommando fürchten.

Die Einwohner des Königreichs Westphalen lernen, dass Napoleons Oberhoheit vor allem dem Wohl Frankreichs dienen soll. Einige Regierungen innerhalb des Rheinbundes sind empört über die rabiaten Methoden der Franzosen. Manche deutschen Staaten unterlaufen die Kontinentalsperre ganz gezielt. Leipzig etwa, das zum Königreich Sachsen gehört, blüht während des Embargos geradezu auf. Denn ein großer Teil der Schmuggelware wird von den deutschen Hafenstädten nun direkt ins Binnenland umgeschlagen und in Handelszentren wie der Messestadt weiterverkauft - zu deutlich höheren Preisen. Aber selbst die linientreuen deutschen Herrscher zögern, Frankreich und dem Modellstaat Westphalen nachzueifern. Keiner der von Napoleon kontrollierten Staaten versucht sich an solch umfassenden Reformen, wie sie Jerome in seinem Königreich initiiert hat. Zwar teilen einige ihr Gebiet in neue Einheiten auf, die die alten Provinzen ablösen, und führen eine moderne, landesweit einheitliche Verwaltung ein. Doch bürgerliche Grundrechte und die Abschaffung ständischer Privilegien werden zwar versprochen, aber meist nur ansatzweise verwirklicht. Der einzige andere Staat, der sich überhaupt eine Verfassung gibt, ist Bayern.

Napoleon duldet es, dass viele deutsche Herrscher keinen Ehrgeiz zeigen, sich dem französischen Vorbild anzupassen. Ihm ist wichtiger, dass sie ihm die Treue halten und ihm wirtschaftlich und militärisch nutzen.

AUCH IM MUSTERSTAAT WESTPHALEN verläuft der gesellschaftliche Wandel keineswegs so, wie es sich die Reformer vorgestellt haben. So schreibt die Verfassung fest, dass die Aristokratie ihre Vorrechte verliert - eine revolutionäre Neuerung. Doch anders als in Frankreich gibt es keine große, selbstbewusste Bourgeoisie, die das Königreich künftig führen könnte. Und so bleibt Jerome gar keine andere Wahl, als die Posten in der höheren und mittleren Verwaltung mit Adeligen zu besetzen.

Die aber sollen nun jene Reformen umsetzen, die das Ende ihrer Privilegien bedeuten.

Ebenso hebt die neue Verfassung die Leibeigenschaft auf, doch verbessert sich die Lage der Bauern kaum. Denn an den Besitzverhältnissen ändert sich nichts: Das Land bleibt in den Händen der meist adeligen Grundherren, die es den Bauern zur Bewirtschaftung überlassen, dafür aber das Anrecht auf verschiedene Abgaben und Dienste haben. Zudem sorgen in der Kasseler Regierung die Minister für Finanzen und Inneres - beides deutsche Adelige - dafür, dass fast alle bisher üblichen bäuerlichen Pflichten bestehen bleiben. Die Bauern müssen also weiterhin diverse Abgaben in Geld und Naturalien an den Grundherrn entrichten, unentgeltlich dessen Felder bestellen, ihm die eigenen Gespanne überlassen und bei der Instandhaltung von Straßen oder Dämmen mithelfen.

Nicht alle Landleute nehmen dies ohne Widerstand hin. Häufig kommt es nun zum Rechtsstreit, meist aber entscheidet die Justiz zugunsten der Grundherren. Als zwei Bauern aus dem Elbe-Departement sich weigern, wie früher auf gutsherrlichem Besitz Deichwache zu halten, verklagt sie der Adelige - und bekommt recht. Der örtliche Richter befindet, es sei nicht eindeutig geklärt, ob derartige Pflichten durch ein entsprechendes königliches Dekret aufgehoben seien.

Die einzige Möglichkeit für die Bauern, sich von solchen Zwängen zu befreien und selbst Eigentümer ihres Landes zu werden, ist die Ablösung: Dafür müssen sie dem Herrn einmalig das 20-Fache dessen zahlen, was sie ihm bislang jährlich gegeben haben, sowie den 25-fachen Gegenwert aller Dienste und Pflichten. Mehrere Dekrete regeln die komplizierte Berechnung. Doch nur wenige beantragen ein solches Verfahren: Die Ablösungssumme kann sich kaum einer leisten.

Viele Bauern dürfen sich indes nicht einmal auf diesem Wege freikaufen. Denn mit der Verfassung des Königreichs hat Napoleon zwar die überkommenen Vorrechte abgeschafft, in ihrem zweiten Artikel aber gleichzeitig neue Privilegien festgeschrieben: Sein Bruder muss die Hälfte aller fürstlichen Domänen - also jenes Grundbesitzes, der den alten Landesherren unmittelbar unterstand - an verdiente Minister und Offiziere des französischen Kaiserreichs abtreten.

Mehr als 900 solcher Schenkungen ergehen bis 1809. Auf den Ländereien mit einem jährlichen Gesamtertrag von über sieben Millionen Franken gelten paradoxerweise sämtliche überkommenen Feudalrechte fort: Die Protektion seiner Günstlinge zählt für Napoleon offenbar mehr als das modellstaatliche Reformprogramm. So müssen die Bauern auf diesen Gütern ihr Getreide zu den Mühlen der Domänenherren bringen, auch wenn sie dafür tagelang unterwegs sind. Die Beschenkten bestehen überdies auf den alten Monopolen für Branntwein, Bier und den Ausschank von Wein, die der Gewerbefreiheit im Königreich krass widersprechen.

Die Einkünfte der abgetretenen Domänen fehlen fortan in der Staatskasse. Da Napoleon zudem angeordnet hat, dass Westphalen die Kriegsentschädigungen seiner Vorgängerstaaten an Frankreich übernehmen muss - rund 26 Millionen Franken -, werden im Königreich nun immer wieder Abgaben erhöht oder neue Steuern eingeführt, so auf Alkohol und Seife.

Dennoch muss Jerome seinem Bruder im Februar 1809 mitteilen, dass er in den nächsten sechs Monaten den Bankrott des Modellstaates erwartet - worauf der Kaiser ungerührt antwortet, in Kassel werde offenbar ein zu verschwenderisches Regiment geführt.

Und Napoleon verlangt nicht nur Geld.

Westphalen muss ein festes Heer von 25000 Mann unterhalten, um im Kriegsfall Frankreich zu Hilfe zu kommen. Jerome bemüht sich, das Soll zu erfüllen: Einstige Soldaten, die älter sind als 35, aber noch immer Junggesellen, lässt der König erneut zum Waffendienst rufen und droht mit Strafen, falls sie sich weigern. Trotzdem gelingt es ihm nicht, genügend Kämpfer zu rekrutieren.

Per Dekret vom 25. April 1808 führt Jerome deshalb die schon in der Verfassung festgeschriebene allgemeine Wehrpflicht auch praktisch ein: Alle unverheirateten Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren müssen fortan für einen fünfjährigen Dienst im Heer zur Verfügung stehen. Quoten legen fest, wie viele junge Männer eines Jahrgangs tatsächlich ihre Einberufung erhalten - bei den 20- und 21-Jährigen etwa sollen es zunächst drei Zehntel aller Wehrfähigen sein.

Schnell wird jedoch klar, dass die Verwaltung mit der Massenaushebung überfordert ist - die deutschen Landesherren der Vorgängerstaaten unterhielten meist freiwillige Söldnerheere. Die Behörden verfügen weder über die nötigen Verzeichnisse männlicher Einwohner noch über genügend fähige Maires, um die Wehrpflicht lokal durchzusetzen. Die Gemeinderäte müssen zunächst Kirchenbücher durcharbeiten, jedes Dorf besuchen, Hausbesitzer und Mieter befragen, um Listen aller Männer der betreffenden Jahrgänge zu erstellen. Wer als dienstpflichtig gilt und bei der Musterung für tauglich befunden wird, muss ein Los ziehen - je niedriger die Nummer, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, auch wirklich eingezogen zu werden.

Den jungen Männern im Königreich Westphalen missfällt der plötzliche Zwang zum Kriegsdienst zutiefst. Viele tun alles, um der Rekrutierung zu entgehen. Mancher glaubt, die Einberufung durch eine Scheinehe vermeiden zu können - bis die Behörden klarstellen, dass die Ausnahmeregelung nur für jene gilt, die schon vor dem 1. April 1808 verheiratet waren. Andere hacken sich den Zeigefinger ab, um ein Gewehr nicht bedienen zu können, oder lassen sich vom Dorfpfarrer bescheinigen, dass sie an einer Krankheit leiden, die den Dienst unmöglich mache.

Die meisten Unwilligen aber fliehen oder verstecken sich. Ganze Ortschaften schweigen, wenn die königlichen Gendarmen kommen. Oftmals decken selbst Maires und Gemeinderäte Fahnenflüchtige, die sich in ihrem Bereich aufhalten. Denn schon nach kurzer Zeit zeigt sich, dass die westphälischen Truppen nicht allein in der Landesverteidigung dienen werden: Nur vier Monate nach dem Erlass zur Wehrpflicht fordert Napoleon - der gerade in Spanien Aufständische bekämpft - die ersten Soldaten an. Im Februar 1809 brechen fünf westphälische Regimenter in Richtung Süden auf. Von den 8000 Soldaten werden nur 800 zurückkehren.

Im Frühjahr 1809 wollen manche die fremden Herren nicht mehr dulden. Ermuntert von Nachrichten über die gegen Napoleon revoltierenden Spanier, wagen sie den Widerstand. In Tirol erheben sich im April Bauern gegen die

bayerischen Herrscher und deren französische Verbündete. Ihr Anführer, der Hofbesitzer und Wirt Andreas Hofer, entfacht einen „Landsturm“, der den Besatzern mehrere Niederlagen zufügt. Hofer regiert Tirol monatelang, ehe der Aufstand im November schließlich zusammenbricht. Der preußische Major Ferdinand von Schill zieht im Mai des gleichen Jahres gegen den Willen seines Königs mit einem Husarenregiment durch Sachsen, die anhaltischen Herzogtümer und Teile des Königreichs Westphalen. Schill beschwört die „in den Ketten eines fremden Volkes schmachtenden Brüder“, endlich „zu den Waffen“ zu greifen. Aber der Unmut in der Bevölkerung ist nicht groß genug für eine allgemeine Erhebung; seine Hoffnung, unterwegs die Volksmassen aufzuwiegeln, erfüllt sich nicht. Er zieht weiter bis Stralsund und nimmt die Ostseestadt auch ein. Sechs Tage später jedoch erobern die Franzosen Stralsund zurück. Schill fällt im Straßenkampf, sein Haupt wird Jerome persönlich übergeben, der 10000 Franken Kopfgeld auf Schill ausgesetzt hat. Dutzende Mitstreiter des Aufrührers werden hingerichtet.

Auch in Westphalen regt sich Widerstand. Im selben Frühjahr schart Wilhelm Freiherr von Dörnberg, Offizier in Jeromes Diensten, andere hessische Adelige und Militärs um sich. Schon seit zwei Jahren knüpft er Kontakte nach England und Preußen, verbündet sich mit deutschen Bürgerlichen, die den König ebenfalls stürzen wollen. Unter dem schwarzen Doppeladler des Alten Reichs formieren Letztere einen Landsturm aus Tausenden Bauern und marschieren am 22. April auf Kassel. Dörnberg hält die Zeit zwar noch nicht für reif zum Aufstand - aber nun bleibt ihm keine Wahl, er setzt sich an die Spitze der Truppen. Doch einige seiner adeligen Mitverschwörer verraten ihn. Südlich von Kassel erwarten westphälische Soldaten den Landsturm; ihre Gewehrsalven zwingen die schlecht ausgerüsteten Bauern in die Flucht.

Die Männer, die sich im Frühjahr 1809 auflehnen, streiten aber nicht etwa für ein modernes Freiheitsideal, sondern verfolgen rückwärtsgewandte Ziele: Hofer in Tirol, Schill und Dörnberg kämpfen für die Rückkehr französisch dominierter Gebiete unter die Herrschaft der altbekannten Fürsten und für die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung.

Als Teil einer gemeinsamen nationalen, gar demokratischen Bewegung empfinden sie sich nicht. Sie streben auch nicht danach, die deutschen Lande in Abgrenzung zu Frankreich zu vereinen; erst ganz langsam und zaghaft beginnt sich in dieser Zeit ein deutsches Nationalgefühl zu regen. Und nach den gescheiterten Aufständen von 1809 erheben sich die Deutschen drei Jahre lang so gut wie gar nicht mehr.

DEN NIEDERGANG der französischen Herrschaft in den deutschen Landen bringt am Ende keine Rebellion im Inneren, sondern Napoleons Niederlage in Russland. Im Frühjahr 1813 dringen russische und preußische Truppen im Kampf gegen die Franzosen auf westphälisches Territorium vor. Jetzt fallen die Adeligen von Jerome ab, Soldaten seines Heers desertieren. Im Sommer laufen ganze Einheiten der westphälischen Armee, die in Böhmen kämpfen, zu Österreich über. Am 30. September, noch vor der Völkerschlacht bei Leipzig, die das Ende von Napoleons Herrschaft über Mitteleuropa besiegelt, nehmen Russen erstmals Kassel ein.

Wenige Wochen später fliehen in einem gewaltigen Tross Jeromes Hofstaat, die französischen Beamten und schließlich auch der Herrscher selbst Richtung Rhein. Das Königreich Westphalen existiert nicht mehr, die Franzosenzeit in diesen Gebieten ist vorbei. Die Regionen die Napoleon annektiert oder seinen Satellitenstaaten zugeschlagen hat fallen an die alten Herrscher zurück. Odagsen wird dem Königreich Hannover zugeschlagen.

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