Odagsen

Deutschland um 1770:

Das Land in der Mitte des Kontinents liegt technisch weit hinter Großbritannien zurück.

Dieser Mangel an Know-how ist Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rückständigkeit, und es werden mehr als 50 Jahre vergehen, bis Deutschland dieses Defizit aufgeholt haben wird.

Vielfältig sind die Ursachen der deutschen Unterentwicklung. So hat Preußen im 18. Jahrhundert immer wieder Krieg gegen Österreich geführt, den mächtigsten Staat des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 'Als 1763 endlich Frieden herrscht, sind weite Teile des Reiches verwüstet, Hunderte Dörfer unbewohnbar, Felder vernichtet; etwa eine halbe Million Soldaten und Zivilisten wurden getötet. Noch lange werden die Folgen spürbar sein.

Aber auch dort, wo die preußischen und österreichischen Armeen und die ihrer Verbündeten nicht marschierten, ist Deutschland um 1770 ein armes Land, im dem die Löhne niedrig und Nahrungsmittel teuer sind, denn viele Bauern können auf ihren kleinen Höfen keine Überschüsse erzeugen.

Dabei ist das Reich zutiefst agrarisch geprägt: von den rund 22 Millionen Menschen, die zwischen Rostock und Triest, Lüttich und Wien siedeln, wohnen mehr als drei Viertel auf dem Land. Es gibt nur wenige Großstädte; einzig Hamburg, Berlin und Wien zählen mehr als 100.000 Einwohner. Mit der Millionenmetropole London können auch sie sich nicht messen (obwohl in Großbritannien nicht einmal halb so viele Menschen leben wie im Heiligen Römischen Reich).

Die Dörfer und Weiler liegen wie seit Jahrhunderten inmitten von Wiesen, Feldern und Wäldern, umschlossen von Hecken oder Zäunen. In der Mitte jedes größeren Dorfes erhebt sich eine Kirche mit Pfarrhaus, stehen ein Amtsgebäude, ein Wirtshaus, das Waschhaus und ein Brunnen, darum reihen sich Gehöfte, die durch ungepflasterte Wege und Stege verbunden sind. Am Rand der Ansiedlung bietet oft ein Asyl Armen Zuflucht.

Die meisten Bauern bewirtschaften ein Stück Land in eigener Verantwortung, säen Roggen, Gerste, Hafer oder Weizen. Sie pflanzen in ihren Gärten Kohl, Spinat, Möhren und Kartoffeln, halten Rinder, Schweine, Gänse, Ziegen und manchmal Bienen, um mit dem Honig ihre Speisen zu süßen. Aber wirklich frei sind sie nicht. Sie leben in verschiedenen Graden der Abhängigkeit von einem Grundherrn: ihrem Landesfürsten, einem Adeligen, einer Kirche oder einem Kloster.

Vor allem auf den großen Rittergütern östlich der Elbe sind die Landleute oft noch Leibeigene. An einer festgesetzten Anzahl von Tagen im Jahr müssen sie dem Gutsbesitzer Frondienste leisten: im Sommer das Getreide auf den Feldern ernten, im Winter Holz in den Wäldern schlagen, beim Bau von Wegen, Brücken oder Scheunen helfen, ihre Ochsen oder Pferde vor die Fuhrwerke der Post oder von durchziehendem Militär spannen.

In einigen Gegenden im Osten beträgt die Dienstpflicht gegenüber dem Gutsherrn sechs halbe Tage in der Woche — Arbeitszeit, die für die eigenen Felder fehlt. Manche Bauern müssen permanent einen Knecht, eine Magd oder ein Gespann an den Junker abstellen. In Pommern darf ein Gutsbesitzer einen Bauern verbieten wegzuziehen. In Mecklenburg können sie mitsamt dem Boden, auf dem sie leben, verkauft werden. In manchen Gegenden im Osten des Reiches besitzt ein Gutsherr zudem das Züchtigungsrecht, und seine Bauern müssen ihn vor der Heirat um Erlaubnis fragen.

Westlich der Elbe, am Rhein, in Hessen, Baden oder Süddeutschland, genießen die Landbewohner etwas mehr Freiheit, sind die alten Frondienste zumeist in Abgaben gewandelt, die in Naturalien, in Getreide, Geflügel und Viehfutter, vor allem aber bar zu zahlen sind.

Doch auch hier schmälern die Abgaben die Erträge. Zudem ist die eingesetzte Agrartechnik oft noch primitiv. Wie ihre Vorväter bearbeiten die Landwirte ihre Äcker mit einfachen Pflügen, Haken und Eggen, düngen mit Viehmist und ernten mit Sense oder Sichel. Viele Bauern können nur die eigene Familie durchbringen und erwirtschaften keine Überschüsse, die sich auf den Märkten verkaufen ließen, oft müssen sie auf ihren Höfen nebenbei handwerklich arbeiten, etwa Webarbeiten herstellen, um zu überleben. Und weil fast 80 Prozent der Höfe in Deutschland solche Kleinbetriebe sind, die nur ihre Besitzer ernähren, ist die Agrarwirtschaft wenig produktiv und liegen die Preise für Lebensmittel hoch.

So bleibt der Hungertod für die meisten Dorfbewohner eine reale Gefahr. Ein Hagelsturm kann die Ernte vernichten, anhaltender Regen im Sommer das Getreide verfaulen lassen. Die Tagelöhner, Mägde und Knechte, die keine eigenen Felder bewirtschaften, leben ohnehin stets am Rand des Existenzminimums. Ihr Dasein hat sich seit Generationen kaum gewandelt, ihr Alltag ähnelt dem längst verblichener Vorfahren. Doch das gilt in Deutschland nicht nur auf dem Lande - auch das Bild der Städte hat sich in vielem seit dem Mittelalter kaum verändert.

Schon von Weitem sind die Spitzen von Kirchen und Wehrtürmen zu sehen: Größere Ansiedlungen schützen sich durch Vorwerke, Gräben und einen Mauerring gegen feindliche Belagerung in Kriegszeiten. Die meisten Städte im Reich zählen nicht mehr als 3000 Einwohner; in Offenburg, Ravensburg oder Schweinfurt etwa leben jeweils nur 500 Menschen. Kaum 500 Städte haben mehr als 4000 Bewohner. An den Toren kontrollieren Wachen den Strom der Reisenden, nachts wird ein Gitter heruntergelassen und verschlossen. Wer dann noch Einlass begehrt, muss ein Sperrgeld zahlen.

Weil es innerhalb der Mauern an Platz fehlt, sind die Gassen eng und dunkel. Oft werden die Häuser über mehrere Stockwerke in die Höhe geführt, verbreitern sich manchmal oben noch und verschatten die Wege zusätzlich. Überall liegt ein stechender Gestank in der Luft. Eimer voller Schlacht- und Küchenabfälle sowie Nachttöpfe werden auf die meist ungepflasterten Straßen entleert, damit der Regen sie durch eine Rinne in der Mitte fortspült. Schweine und Hühner laufen durch die Gassen, in kleinen Landstädtchen liegen Misthaufen vor vielen Häusern. Der Ruß von Holzfeuern aus Öfen und Schmieden erschwert das Atmen.

Und es ist laut: Die Kirchturmglocken läuten, in ihren Werkstätten hämmern Schmiede an den Ambossen und fachen mit Blasebälgen die Glut an, Schuster klopfen und schmirgeln an Leisten, Drechsler fertigen an ihren Drehbänken Werkstücke, Hufgeklapper, Gesang, Geschrei und Gezänk. Das Gewirr der Gassen öffnet sich erst am Markt, dem belebtesten Ort jeder Stadt: Hier ist etwas mehr Licht und Luft; hier erheben sich das Rathaus, die Gasthäuser und die zuweilen prachtvollen Fassaden der Patrizierhäuser sowie die Kontor- und Wohnhäuser der wohlhabenden Kaufleute und die Versammlungshäuser von Gilden und Zünften.

Die Gesellschaft des Reiches ist in Stände geschieden. Ganz oben steht der Adel, der insgesamt etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung ausmacht, gefolgt vom Klerus, der vom Erzbischof bis zum Dorfpriester alle adeligen katholischen Geistlichen umfasst. Zu den Bürgern gehören in den deutschen Landen gut eine Million Menschen, doch der zahlenmäßig größte Stand ist der der Bauern. Und wer weder Land noch Bürgerrecht besitzt, zählt zu der großen Gruppe der standlosen Unterschicht.

Von den höchstens fünf Millionen Deutschen, die in Städten leben, genießt nur etwa ein Viertel das Bürgerrecht. Diese Bürger können sich in den Rat der jeweiligen Stadt wählen lassen und dort über die Verwendung eines Teils der Steuergelder bestimmen.

Meist sind es jedoch nur wenige Honoratioren- und Patrizierfamilien, die in den Magistraten dominieren. Unterhalb dieser Elite rangiert in den urbanen Zentren eine Mittelschicht aus Kaufleuten, Handwerksmeistern, Dienstboten, Heimgewerbetreibende, ledige Gesellen, Soldaten, Tagelöhner und Manufakturarbeiter. Sie haben keinen nennenswerten Besitz und auch kein politisches Mitspracherecht.

Ganz unten sammeln sich schließlich die randständigen Existenzen: Bettler, Scherenschleifer, Zahnbrecher, Prostituierte, Gaukler und anderes umherziehendes und heimatloses Volk.

Jeder zehnte Deutsche lebt auf der Strasse: zwei Millionen Menschen. Unter Ihnen sind entlaufene Soldaten, verarmte Bürger, Bauern die nach Missernten Ihre Höfe aufgegeben haben, mitunter ziehen ganze Familien bereits seit Generationen durchs Land. Werden Sie aufgegriffen, lassen die Behörden Sie oft prügeln oder Ihnen die Ohren abschneiden. Erwischt man Sie erneut, werden sie auf dem Rücken oder im Gesicht gebrandmarkt oder gar exekutiert.Tatsächlich stehlen viele, um zu überleben; oft schließen sie sich einer der Diebesbanden an.

Deutschland besteht zu dieser Zeit aus mehr als 1.000 Herrschaften die bei der Verbrechensbekämpfung kaum zusammenarbeiten. Vor allem im Südwesten ist das Rechtswesen derart zersplittert, dass bisweilen ein Dorf einen anderen Gerichtsherren hat als der Weiler nebenan. Und eine gut organisierte Polizei gibt es ohnehin noch nirgendwo: Die wenigen Wachleute sind kaum ausgebildet, mitunter sogar Greise oder Invaliden. So ist es leicht der Strafverfolgung zu entkommen.

Zwar sind die Grenzen zwischen den Ständen und Schichten etwas durchlässiger geworden. Denn ohne die Dienste der Stadtbürger in Justiz und Verwaltung kommen die Fürsten und adeligen Patrizier nicht mehr aus.

Doch in den Herrschaften des Reiches verdankt die bürgerliche Elite ihren Aufstieg nicht unternehmerischem Erfolg (wie in England) oder politischem Einfluss (wie in Frankreich), sondern vor allem ihrer Bildung. Wer eine gute Schule besucht oder studiert hat, kann im Kirchendienst, einem Amt oder Ministerium auf eine Karriere hoffen. Auch werden bürgerliche Werte wie Fleiß, Ordnung und Sittlichkeit in der Gesellschaft immer wichtiger.

Aber weiterhin existieren unsichtbare Grenzen, ist der Aufstieg gewöhnlich auf den eigenen Stand beschränkt: Der Sohn eines Kleinbauern kann es durch günstige Heirat oder geschickten Landerwerb zum Großbauern bringen (aber mehr eben auch nicht), ein Handwerksmeister kann zum vermögenden Verleger aufsteigen, der Nachkomme eines Pfarrers zum Professor oder Kanzler einer Universität.

Vom Geistesadel der bürgerlichen Aufsteiger in Deutschland wiederum fühlen sich oftmals die Mitglieder der alten Zünfte bedroht. Daher versuchen sie, ihre überkommenen Privilegien zu verteidigen.

Von den 1,2 Millionen deutschen Handwerkern und rund 50.000 Kaufleuten und Händlern sind viele in eigenen Verbänden zusammengeschlossen, die über großen Einfluss verfügen. Bäcker, Schneider, Tischler, Steinmetze und zahllose andere Professionen sind in Zünften organisiert (andere Handwerker wie Henker und Abdecker, mancherorts aber auch Müller, Gerber oder Leineweber gelten als unehrenhaft, ihnen ist dieses Vorrecht, das ermöglicht, das eigene Metier zu regulieren und Konkurrenz auszuschalten, versagt).

Die Verbände wachen seit einem halben Jahrtausend streng darüber, dass jeder Handwerker nur das ihm zugedachte Spezialgebiet seines Fachs ausübt, und daran soll sich auch nichts ändern.

Die Zünfte vermitteln Aufträge, sie prüfen die Qualität der Produkte und kontrollieren die Ausbildung der Gesellen, bestimmen über die Größe und Anzahl der Betriebe und wachen über den Lebenswandel ihrer Mitglieder: Wer Lehrling werden will, muss seine eheliche Geburt nachweisen können und ein ehrbares Leben führen.

Unter diesen Umständen ist es schon fast erstaunlich, dass trotz dieser mittelalterlichen Privilegien durchaus einige Regionen prosperieren. Die Deutschen verkaufen Leinen- und Wollstoffe, Holz, Getreide, Wein und Tabak an ihre Nachbarn und führen selbst Rohstoffe, Südfrüchte und Kolonialwaren ein.

Die Messestädte Frankfurt am Main und Leipzig, die eine alte Kaufmannsstraße miteinander verbindet, ziehen Geschäftsleute von weither an, die sächsische Metropole zumal dient als Umschlagplatz für die Ausfuhr nach Polen und Russland. Und Hamburg hat den drittgrößten Hafen Europas.

Im Vergleich mit Großbritannien ist der deutsche Außenhandel allerdings klein, er beträgt nur ein Drittel, trotz der mehr als doppelt so großen Einwohnerzahl. Denn die deutschen Staaten besitzen weder nennenswerte Kolonien noch eine bedeutende Handelsflotte.

Und den Warenaustausch innerhalb Deutschlands erschweren schlechten Verkehrswege. Die Binnenschifffahrt ist oft mühselig. Es gibt nur wenige Kanäle, und um etwa ein mit 3000 Zentnern beladenes Frachtschiff auf dem Rhein gegen die Strömung bergan zu ziehen, müssen sich auf den Treidelpfaden am Ufer ein Dutzend Pferde oder bis zu 90 Mann in die Seile stemmen.

In Großbritannien erleichtern die kürzeren Entfernungen zwischen den Küstenhäfen und den Städten im Inland den Transport. In Frankreich sind früh Flüsse begradigt und Kanäle gestochen worden. Auch auf Deutschlands Straßen ist das Reisetempo gemächlich. Zwar verbinden in Hessen und Baden erste gut ausgebaute Chausseen einige Städte. Ihre geglättete Oberfläche ist zur Mitte hin leicht gewölbt, damit das Regenwasser in seitliche Gräben ablaufen kann.

Aber Preußen verfügt um 1770 noch über keine einzige solcher „Kunststraßen“. Sechs Tage dauert etwa die Reise von Berlin nach Königsberg per Postkutsche — und ist eine Tortur: Derart rumpelten die Karossen über die zerklüfteten Landstraßen, schreibt ein Künstler Anfang des 19. Jahrhunderts, „dass Leib und Seele Gefahr liefen, voneinander getrennt zu werden“. In England dagegen werden seit Jahrzehnten Hauptverkehrsstraßen gebaut und Brücken erneuert.

Die langen Reisezeiten in Deutschland machen den Transport teuer; zudem steigern überall Zölle die Preise der Fracht. Das Land ist in mehr als 1000 weltliche und geistliche Herrschaften zersplittert, vom Königreich Böhmen bis zur Fürstpropstei Berchtesgaden, von der Hansestadt Hamburg bis zum ebenso autonomen Reichsdorf Gochsheim in Unterfranken. Und jeder Herr erhebt an den Grenzen seines Landes Abgaben. Kaufleute müssen zudem Brücken-, Torgelder oder Stapelgebühren zahlen. Am Main liegen um 1800 zwischen Bamberg und Mainz 33 Zollstationen, am Rhein sind es von Straßburg bis zur holländischen Grenze 32 - im englischen Königreich dagegen sind schon um das Jahr 1600 alle Binnenabgaben abgeschafft worden.

Zu leisten sind die deutschen Mauten und Zölle in den unterschiedlichsten Münzen: goldenen Friedrichsdor und Dukaten, silbernen Gulden, Reichs- und Konventionstalern. Dazu kursieren unzählige geringwertige Scheidemünzen aus Kupfer: Groschen und Pfennige, Heller, Kreuzer und Schillinge, aber auch wertvolle ausländische Geldstücke.

Wenn sich in diesem in Zersplitterung und Rückständigkeit beinahe erstarrten Land etwas bewegt und neue Formen des Wirtschaftens entstehen, sind nicht wie in Großbritannien private Unternehmer und Anleger die Antreiber. Deutschen Aristokraten verbietet ohnehin ein stillschweigender Ehrenkodex, offen als Händler oder Kaufmann zu arbeiten.

In England ist es für den Spross einer Adelsfamilie dagegen keine Schande, in einem Handelshaus sein Geld zu verdienen. Berufswechsel werden nicht durch Zünfte behindert:

James Watt etwa war Instrumentenbauer, bevor er sich der Dampfmaschine widmete. Auf der Insel investieren Unternehmerpioniere in neue Apparaturen und Erfindungen, so wie der ehemalige Perückenmacher Richard Arkwright, der die erste Spinnmaschine mit Wasserradantrieb konstruierte. Tuchverleger finanzieren mit ihrem Kapital Baumwollmanufakturen - und fördern so die Effizienz der Gesamtwirtschaft. Auch beim Nachbarn Frankreich versuchen Aristokraten, ihre Güter profitabler zu betreiben.

In Deutschland sind es allein die Regierungen, die die Ansiedlung von Manufakturen mit Geld und Privilegien unterstützen. Das soll höhere Staatseinnahmen bringen und jene Branchen etablieren, die aus Sicht der Herrschenden wichtig sind: zumeist die Produzenten von Rüstungs- und von Luxusgütern.

So finanziert der preußische Staat mit Zuschüssen die Gründung solcher Betriebe oder führt sie gleich ganz in eigener Regie. Vor allem im Textilgewerbe entstehen auf diese Weise neue Arbeitsplätze. Das Königliche Lagerhaus etwa, dem der Staat zur Gründung das Gebäude zur Verfügung stellt, fertigt Wolltuch, schneidert Uniformen für preußische Soldaten und gibt bereits 1738 fast 5000 Menschen Arbeit.

Mehr als 25 Manufakturen außerhalb der Hauptstadt weben Seiden- und Tuchstoffe. 200 Arbeiterinnen stellen in einem Betrieb künstliche Blumen her. Doch meist werden Stoffe nicht in einem großen Betrieb gefertigt, sondern in ländlichen Regionen produziert, denn dorthin reicht die Macht der städtischen Zünfte nicht. Verleger verkaufen die Rohmaterialien an verarmte Bauern oder Dorfbewohner, die kein Feld besitzen und gezwungen sind, sich etwas Geld hinzuzuverdienen. Sie spinnen in Heimarbeit Wolle oder weben Stoffe. Zwischenhändler liefern die fertige Ware dann in den Städten ab.

Regelrechte Gewerbelandschaften bilden sich in manchen Regionen des Reiches: Textilmanufakturen um Elberfeld, Aachen und Krefeld weben Tuch und feine Seide, Schmieden in Solingen und Remscheid stellen Klingen und Waffen her, die auf der ganzen Welt begehrt sind. Doch eine anhaltende Modernisierung geht von ihnen nicht aus.

Zudem nimmt die Bevölkerungszahl jedes Jahr um etwa 100.000 Menschen zu, die zusätzlichen Esser verschärfen den Mangel an Nahrung. Da Lebensmittel in Deutschland teuer sind und die Einkommen zugleich niedriger bleiben als etwa in England (wo mehr Arbeiter in Betrieben Beschäftigung finden), fehlt vielen Menschen schlicht das Geld, um Tücher, Messer oder Kunstblumen zu kaufen. Die Reallöhne sinken sogar. Daher entsteht kein ökonomisches Wachstum, das sich selbstträgt und verstärkt. Deutschland fällt gegenüber Frankreich und vor allem Großbritannien immer weiter zurück.

aus GEO-Epoche Nr. 79 Deutschland um 1800: Entnommen den Beiträgen "Spione für den Fortschritt" und "Der Held der Ohnmächtigen"

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