Odagsen

Dieser Text stammt aus der Juni Ausgabe der "PM-History" und beschreibt die Situation der Landbevölkerung in jenem Jahr. Das Schicksal dieses Dorfes ist nicht exemplarisch für Odagsen (wie sind schließlich nicht Hessen), dennoch enthält es interessante Informationen:

Es sind die Mutigsten und die Verzweifeltsten, die am 31.Juli 1846 im Odenwald auf-

brechen, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Die keine Kartoffeln mehr haben und von der Obrigkeit meist nichts zu erwarten als Almosen - oder gar das Zuchthaus.

So wie sie machen sich in diesen Monaten Zehntausende auf den Weg, eine Karawane aus Tagelöhnern, Kleinbauern und Handwerkern, die es aus den Dörfern in die Seehäfen zieht. Die Menschen schleppen ihren Besitz und ihre Kinder fort, nach Texas, Ohio und Brasilien.

Nie zuvor haben soviele Menschen Deutschland verlassen. Ein Exodus der Hoffnungslosen, für die es nicht genug Arbeit gibt, nicht genug Land, nicht genug Essen. Ganze Dörfer verschwinden.

Vor allem im Südwesten ist die Not groß - auch im hessischen Groß-Zimmer wo sich die Menschen an diesem Sommertag in Richtung New York aufmachen. Etwa 350 Emigranten fahren auf 41 Leiterwagen durch den Odenwald. Die jüngste Auswanderin ist wenige Monate alt, der älteste Emigrant ist 71.

Hunderte verlassen an diesem Tag Groß-Zimmern. Und Hunderte weitere werden kurz darauf folgen. Der Ort verliert fast ein Viertel seiner Einwohner – und wahrscheinlich beglückwünscht sich der Gemeinderat dazu.

Denn was für die Ärmsten eine Verzweiflungstat ist, gilt den Mächtigen als gesunder Ader-

lass. Als Kur für ein überlastetes System der Armenhilfe. Und als Schutz vor Rebellion. Zu viele Menschen können sich in Deutschland nicht mehr ernähren.

Die Bewohner Groß-Zimmerns fliehen aus einem rückständigen Land. Während Großbritanniens Gesellschaft schon seit zwei Generationen durch die Industrialisierung umgewälzt wird, bestimmt in Deutschland noch immer der Wechsel von Aussaat und Ernte den Lebensrhythmus - und nicht das Stampfen der Dampfmaschinen.

Nach wie vor fertigen deutsche Weber die meisten Stoffe in Handarbeit.

In Berlin sind zwar bereits Maschinenfabriken entstanden, die Zahl der Einwohner verdoppelt sich bis 1845 binnen 30 Jahren auf 400 000 Menschen, und auch anderswo nimmt die Bevölkerung zu. Dennoch arbeiten die meisten Deutschen weiterhin auf dem Land.  Immerhin schuften die Menschen nur noch selten als Abhängige ihrer Grundherren.

Anfang des 19. Jahrhunderts haben die deutschen Staaten ihre Gesetze reformiert, um den Bauern individuelle Rechte und eigenes Land zu verschaffen. Allerdings besitzen die

freien Bauern in den südwestdeutschen Staaten Felder, die oft kaum einen Hektar groß sind, denn hier erhält jeder Sohn im Erbfall den gleichen Teil des Landes - die Äcker werden so von Generation zu Generation immer kleiner.

Unter solchen Umständen gelingt es en Bauern selten ausreichende Ernten einzufahren. Die Bewohner des hessischen Ortes Pferdsbach beschließen deshalb 1845, fast geschlossen nach

Amerika auszuwandern. Sie verkaufen ihr Land und ziehen nach Texas.

In anderen Teilen des Deutschen Bundes gelingt es den Bauern hingegen, ihre Erträge deutlich zu steigern. Hatten die Bauern jahrhundertelang wenig Interesse daran, mehr Getreide einzufahren - ihre Herren hätten die höheren Erträge ja einfach abgeschöpft - ernten

sie nun deutlich mehr. 1850 produzieren die deutschen Landwirte bereits doppelt so viel Fleisch und Getreide wie noch um 1800.

Neuerungen setzen sich durch, wie die seit dem 18. Jahrhundert verbesserte Drei-Felder-Wirtschaft. Zudem werden neue Flächen zu Ackerland, es verbreiten sich verbesserte Pflüge und Düngemethoden, planvolle Zucht steigert Fleisch-und Milcherträge.

All dies ist dringend nötig, denn die Einwohnerzahl im Deutschen Bund (ohne Österreich) ist rasant gestiegen: von 24 Millionen um 1817 auf mehr als33 Millionen 1846.

Ein Grund dafür ist der andauernde Friede. Seit dem Winter 1813/1814 hat es keinen Krieg mehr gegeben auf deutschem Boden. Vor allem aber brauchen Knechte, Mägde, Tagelöhner nicht mehr ihre Herren um Erlaubnis zu fragen, wenn sie heiraten wollen. Und die Heimindustrie bietet einen Broterwerb für Menschen, die vorher keine Familie

hätten ernähren können. Sie weben, spinnen, färben, sie fertigen Klingen oder Knöpfe. Alle arbeiten mit, auch die Jüngsten - ein Ansporn, möglichst viele Kinder zu bekommen.

Doch mit der Bevölkerung wächst die-Not. Denn die Reformer haben nicht nur die Bauern aus der Abhängigkeit von ihrem Herrn entlassen, sondern auch die Adeligen aus ihrer Pflicht, für ihre Untergebenen zu sorgen.

Dabei finden gerade auf dem Land viele keine Arbeit mehr; nimmt die Zahl jener Menschen rasant zu, die nur einen winzigen Acker besitzen. Und die Hinterzimmer-Fabriken können bald mit der billigeren Industrieware aus England nicht mehr mithalten. Auch die Handwerker leiden unter sinkenden Löhnen, zu viele Männer suchen hier ein Auskommen. Weite Teile der Bevölkerung haben nur das Nötigste zum Überleben. Die meisten ernähren sich von Kartoffeln.

In manchen Dörfern kommen die Hälfte der Bewohner der Bewohner nicht ohne Hilfe aus.

Die Regierenden beobachten die Massenarmut besorgt. Fürchten, sie könnte die politische Stabilität bedrohen. Tatsächlich protestieren die Menschen, stürmen hier eine Metzgerei

oder rauben dort Marktstände aus. Die Fürsten fürchten, dass aus den Brotkrawallen und Kartoffelunruhen ein gewaltsamer Umsturz erwachsen könnte.

1847 ist es fast so weit: Als sich die Preise für Kartoffeln und Brotgetreide verdoppeln bis verdreifachen, brechen in rund 100 deutschen Städten Hungerrevolten aus. Ein aus Amerika eingeschleppter Pilz hatte zuvor die Kartoffelernten verdorben. In Berlin stürmen

mehrere Tausend Menschen zwei Tage lang Bäckereien und Schlachterläden.

Den Verzweifelten bleibt nur der Aufstand oder die Flucht. Die Auswanderung sei „ein bewährtes Heilmittel für einen kranken Volkskörper und geeignet, Revolutionen zu dämpfen“, schreibt Freiherr Hans Christoph von Gagern aus dem Herzogtum Nassau 1816 an den österreichischen Außenminister Metternich.

Von Gagern wirbt dafür, Arme bei der Ausreise zu unterstützen. Als Mitglied der Stände-Versammlung des Großherzogtums Hessen erwirkt er 1820, dass die Freiheit des Einzelnen, aus seinem Staat auszuwandern, als Recht in einer neuen Verfassung verankert wird

Nun darf jeder das Großherzogtum verlassen, der schuldenfrei ist, in keine polizeiliche Untersuchung verwickelt und nicht versucht, sich dem Kriegsdienst zu entziehen

Minderjährige müssen mit auswandern und verlieren wie ihre Eltern die Staatsangehörigkeit.

Ähnliche Regelungen gelten in anderen deutschen Staaten. Zunächst ziehen die Wirtschaftsflüchtlinge nach Russland oder Österreich. Immer mehr Menschen versuchen auch, über den Atlantik zu gelangen, vor allem in die USA.

Zehntausende zieht es über den Atlantik. Ganze Familienverbände brechen auf, lassen höchstens die Großeltern zurück. Jeder Immigrant darf in den USA auf Regierungsland siedeln. Tagelöhner, Handwerksgesellen und Kleinbauern träumen davon, für sich und

ihre Kinder ein Stück Wald zu roden, einen eigenen Bauernhof aufzubauen.

Bald entwickeln Reeder und Schiffsmakler ein neues, lohnendes Geschäftsmodell: Agenten eröffnen Büros im Binnenland, etwa in Mainz, und verkaufen in deren Auftrag Plätze auf den Schiffen. Werber ziehen über die Dörfer und sammeln wiederum gegen Provision Passagiere für die Agenten.

Spezielle Zeitungen widmen sich ab 1846 dem Interesse an Übersee, sie drucken sentimentale Gedichte, aber auch Reisewarnungen, berichten über Siedlungsprojekte.

Und in vielen deutschen Städten entstehen Vereine, die die Auswanderung fördern - oder gar versuchen, Kolonien in Amerika zu gründen. Diesen Organisationen fehlt allerdings das

Geld, um das Grundproblem zu lösen:

auswandern kann nur, wer genug angespart hat. Gerade jene aber, die in verzweifelter Lage sind, können die 70 bis 100 Gulden für die Schiffspassage nicht bezahlen. Etliche Dörfer verkaufen daher ihren gesamten Gemeinbesitz, die Menschen überlassen ihre Häuser und

Höfe wieder dem Wald und gehen fort.

So manche hessische Gemeinde glaubt, dass es für sie auf Dauer günstiger ist, den Armen eine Reise zu bezahlen, als sie Jahr für Jahr zu unterstützen. Zwar kümmern sich auch Kirchen und wohlhabende Bürger um Bedürftige, doch vor allem sind es die Gemeinden die Waisenhäuser und Spitäler unterhalten müssen. Staatliche Unterstützung gibt es noch nicht.

Und wie ist es den Auswanderern aus Groß-Zimmern ergangen:

Am 14. September 1846 legt Ihr Schiff die Atlas“ in New York an. Tags darauf müssen die Passagiere von Bord gehen, und wissen nicht wohin: Die Besatzung hat Ihnen keine Zeit gelassen, sich Bleibe und Arbeit zu suchen.

Überfordert und erschöpft bleiben die meisten der rund 300 Groß-Zimmerer

auf der Pier er wo sie abends ein Polizist aufliest. In den nächsten beiden tagen werden viele von Ihnen ins Armenhaus eingewiesen.

Ende September leben von inzwischen 567 eingetroffenen Groß-Zimmerern 429 in städtischer Fürsorge. Und lösen einen Aufruhr in der Presse aus.

Wie genau es den Groß-Zimmerern später ergeht, ist nicht bekannt: Ihre Briefe

in die Heimat sind nicht erhalten, allein Berichte aus zweiter Hand und die Aufzeichnungen des New Yorker Armenhauses überdauern die Zeit. Doch diese Einrichtung ist zumindest keine Endstation: Nur 25 Hessen leben nach einem Jahr noch dort. 20 Groß-Zimmerer sind gestorben, zwölf davon Kinder.

Vermutlich sind die Familien irgendwann weitergezogen. Vielleicht schlossen sie sich jenen Groß-Zimmerern an, die sich gemäß einem in einer hessischen Zeitung zitierten Brief in Utica im Staat New York ansiedeln, vielleicht haben Sie aber auch in der Stadt Arbeit gefunden.

 

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